Beseeltes Musikstudieren – eine ­kindliche Fiktion

Als Kind hat man die Chance, den noch nicht erfahrenen Dimensionen von künstlerischen und moralischen Normen in ihrer Qualität, ihrer Wertigkeit und ihrer gesellschaftlichen Funktion mithilfe der ureigenen Fantasie ein unabhängiges Ausmaß zu geben.

11. Februar 2022

Lesezeit: 4 Minute(n)

Als Kind hat man die Chance, den noch nicht erfahrenen Dimensionen von künstlerischen und moralischen Normen in ihrer Qualität, ihrer Wertigkeit und ihrer gesellschaftlichen Funktion mithilfe der ureigenen Fantasie ein unabhängiges Ausmaß zu geben.

Text: Andreas Nebl

Für mich stand in der Zeit des Heranwachsens sehr klar vor Augen, dass das eigentliche Ziel eines Musikstudiums sein würde, in persönlichen Schritten das „Beseelte“ zu erreichen – einen befreiten, geistigen Zustand von Gefühl und Wissen, der außerhalb der Musik nicht erreichbar wäre. Dies war nach meinem Empfinden die Legitimation überhaupt, die Musik am Ende als Beruf wählen zu können, um dem sehr verbreiteten und dominierenden materiellen Leben der Gesellschaft den eigentlichen, würdigen Gegenpol zu bieten.

Sich aus rein pädagogischen oder gar geschäftlichen Absichten in das musische Feld zu begeben, schien mir als mögliche Motivation bzw. Berechtigung, diesen Beruf zu wählen, nie wirklich ausreichend zu sein – allein schon deshalb, weil mir Tätigkeiten in diesen Bereichen in relevanten Diskussionen (wie wir sie auch zur Zeit häufiger in Zusammenhang mit Corona hautnah erleben müssen) sehr schnell als austauschbar erschienen.

Schon früh hatte ich Gelegenheit – sei es durch reale Erlebnisse und Begegnungen oder auch beim Mithören des väterlichen Tonbands am Sonntagmorgen – in der familiären Umgebung beseelte Musiker (mitunter auch Laien) zu erleben, die durch ihr Dasein mit ihren Instrumenten in meinen Sinnen Wahrhaftiges, nach meinem kindlichen Empfinden zum Teil unsagbar Klar-​existenziell-​Wichtiges verkörperten bzw. kommunizierten. Ich spürte auch in den Gesprächen der Erwachsenen parallel zu meinem Erlebten die mitunter unendliche Faszination, ja ein „Betroffensein“ heraus. Bei einem dieser besonderen Musiker zum Beispiel, dem Slowenen Albin Rudan, hörte ich als Kind immer ein „Licht scheinen“, wenn er spielte. Es war wie ein auf die Erde gebrachtes Wunder für mich, ihm zuzuhören.

Der Gedanke, die wachsende Absicht, die Perspektive, irgendwann selbst zu einer dieser Gruppen – mein Instrument betreffend nach Trossingen – zum Studieren zu gehen, bildeten in mir in der Folge sehr umfassende, intensive und vor allem im geistigen Format allergrößte Assoziationen und Hoffnungen.
Denn der Ort „Trossingen“ hatte durch die schon lange gehörten und beeindruckenden Erzählungen den Status des Mekkahaften bekommen. Dort würden, so sagte man, einige Genies leben, manche Komponisten in der wirklichen, großen klassischen Tradition arbeiten, viele beseelte Spieler, freie, inspirierende Künstler wirken. Allein 5000 Menschen würden dort tätig sein, nur um Musikinstrumente herzustellen. In Trossingen würde „Es“ (!) also passieren. Eine Kultur des pur Musikalischen, des erfüllten, geistig-​künstlerischen Lebens, des vollsten Bewusstseins für das Miteinander, das Zusammen im Klang, die Kommunikation mit den anderen und mir selbst würde mich erwarten.
Einer von diesen Menschen, so wurde immer wieder anekdotenhaft erzählt, habe sogar sein Instrument nach einer körperlichen Verletzung im Krieg einfach umgedreht und mit getauschten Manualen weitergespielt.

Mein gesamtes Bild, mein innerer Abdruck von dieser Umgebung war davon regelrecht geprägt und geleitet, dass man es „dort“ deshalb unter den kosmischen Zusammenhängen, ohne zum Beispiel die bewusste Umsetzung der Fünf Bücher der Weltharmonik von Johannes Kepler nicht machen würde und gar nicht erst leben würde und wollte, den umfassenden Umgang mit Musik gar nicht anders handhaben könnte – wenn nicht beim Studium an diesem Ort – wo sonst?

Hier würde es deshalb ein Leben im vollendeten Bewusstsein von Balance, in lebendigem Kräftegleichgewicht und musikalischer Sinnhaftigkeit geben: Das Eigentliche erfüllte menschliche Bewegen in Musik, in dem der menschliche Geist, das menschliche Gefühl und seine Ausrichtung im Leben tatsächlich eins sind – in einer klingenden Weltharmonie.

Ja – fast heilig, so würde ich es heute beschreiben, stellte ich mir die gesamte Stimmung und das alltägliche Leben der Musiker in Trossingen vor: ein Füreinander auf vorbildlichstem moralischem Niveau. Ein Leben, Denken, Spüren – und vollkommen ohne Zweifel in dieser Haltung, weil man auch nicht anders ans Ziel erfüllten Lebens in der Musik kommen könnte. Mit höchstem Respekt vor der Kultur würde man hier komponieren, musizieren, lernen, wäre im ständigen Kontakt untereinander im lichten und unaufhörlichen Bewusstsein einer großen sozialen Einheit, mit dem so entscheidenden Bewusstsein, als unbedingtem Vorbild für die restliche Gesellschaft zu fungieren. Ein „Nein“ würde hier immer auch ein „Ja, ich höre dich“ bedeuten, ein „Ja“ würde selbstverständlich und stets ohne krumme, ungeduldige oder ironische Betonung ausgesprochen.

Gerade auf die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Musik, warum die Regierungen überhaupt die Musik als Studienfach eingeführt hätten, nach ihrer Bedeutung und auch ihrem Nutzen, gab es für mich in der Zeit des Heranwachsens eigentlich nur eine schlüssige Antwort:
Ohne dieses Erfülltsein von der Musik am Ende der Ausbildung/des Studiums, ohne das „Beseelte“, wie ich es gefühlsmäßig im Ansatz ja bereits früh schon sogar von Laien mitbekommen hatte, würde der Weg, die Ausübung von Musik als Beruf gerade auch gesellschaftlich keinen überzeugenden Sinn machen. Dies erschien mir in meinem Empfinden bereits als Kind würdelos zu sein, bzw. einer echten Täuschung gegenüber der Musik und der gesamten Gesellschaft gleich. Dieses Ziel würde erst recht wichtig bzw. relevant sein, nicht zuletzt auch in Momenten, wenn ich an die vielen anderen Berufe dachte wie Bäcker, Schreiner, Handwerker, die im Bereich des materiellen Lebens – anders als in den künstlerischen Berufen – immer eine handfeste, kaum infrage gestellte Legitimation genossen. 

Wegen der Wichtigkeit einer umfassenden Entwicklung jeder einzelnen Persönlichkeit, die da nach Trossingen kommen würde, war es deshalb in meiner Kinderfantasie unvorstellbar, ein sinngemäß aufgespaltenes, endlos durchstrukturiertes System von Einzelfächern vorzufinden, welches unter Umständen dazu führen kann, dass manche Lehrkräfte zum Beispiel eine eher eingeschränkte Ahnung von Harmonielehre haben könnten. Ich hätte mich gefragt, wie jemand ein musikalisches Fach glaubhaft unterrichten sollte, ohne sich in Harmonielehre auszukennen, ohne Harmonielehre wirklich vorleben zu können. Für einzelne Fakten, die man ja auch nachlesen konnte, vielleicht schon, nie aber, wenn es um das allgegenwärtige Ganze gehen würde. Nein, das Verteilen von Themen, Projekten, Studieninhalten zum Beispiel würde, so meine kindliche Vorstellung, beim Studieren sicher jeden Morgen aufs Neue zwischen den Künstlern, Lehrern und Studenten neu geordnet bzw. justiert, je nach persönlichem Stand und kreativer Entwicklung der Studenten, je nach den eigenen Projektbeanspruchungen der Künstler bzw. Lehrkräfte – so dachte ich.
Eines Tages kam ich dann noch auf Hermann Hesse. Dieser beschreibt in seinem Roman Das Glasperlenspiel ein komplexes geistiges Spiel mit allen Inhalten und Werten der Künste, der Musik und der Wissenschaften, das nur von der Kaste der Glasperlenspieler in langen Jahren perfektioniert und beherrscht werden könne. Man kann es sich wie das Spiel auf einer riesigen Orgel vorstellen, die das gesamte geistige Leben der Menschheit umfasst und reproduzieren kann. Der Orden der Glasperlenspieler strebt das Zusammenspiel aller Künste und Wissenschaften an. Ja, dachte ich, so etwas in dieser Art hatte ich in meiner Naivität eigentlich beim Studium erwartet.
Natürlich habe ich später bei meinem tatsächlichen Musikstudium etwas anderes vorgefunden, als ich mir in meinen kindlichen Träumen vorgestellt hatte. Beim „Ideal des Seelischen“ fühlte ich mich tatsächlich nicht selten alleine gelassen.

Trotzdem bin ich den Träumen meiner Kindheit unendlich dankbar, denn die eigenen, bereits im Kindealter gewachsenen inhaltlichen Qualitätsnormen haben mir bis zum heutigen Tag eine große geistig-​emotionale Sicherheit und Orientierung gegeben. Sie haben mir geholfen, mit praktisch allen menschlichen und künstlerischen Phänomenen, die mir auf meinem musikalischen Weg begegnet sind, bezüglich ihrer Relevanz selbstständig und unabhängig umzugehen.

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