Interpretation von Scarlatti-Sonaten am Akkordeon und die Frage nach der dritten Dimension

Eine Vielzahl der Sonaten sind satztechnisch transparent und bezĆ¼glich der verwendeten Lagen fĆ¼r das Akkordeon tonsetzerisch angelegt

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19. Mai 2021

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Lesezeit: 7 Minute(n)

Interpretation von Scarlatti-Sonaten am Akkordeon und die Frage nach der dritten Dimension

Meine erste BerĆ¼hrung mit der Musik von Domenico Scarlatti (1685ā€Šā€“ā€Š1757) war zu Beginn meiner Studienzeit eine Ton-Aufnahme von Hugo Noth, der spƤter dann auch mein Lehrer wurde. Eine solche Schƶnheit, Klarheit, ein so Ć¼berzeugendes und spannendes ā€žklassischesā€œ Spiel am Akkordeon hatte ich bis dahin nicht gehƶrt. Das Wahrnehmen und Kennenlernen dieser Schule und Ƅsthetik war fĆ¼r mich musikalisch ein wichtiger Wendepunkt auch dahingehend, eine Orientierung gefunden zu haben, mit dem Akkordeon im Bereich der Klassischen Musik nachhaltig und glaubhaft etwas anzufangen.

Eine Vielzahl der Sonaten von Domenico Scarlatti sind satztechnisch so transparent und bezĆ¼glich der verwendeten Lagen fĆ¼r das Akkordeon tonsetzerisch so gĆ¼nstig angelegt, dass es fĆ¼r mich immer wieder erstaunlich ist, wie stimmig diese vor etwa 300 Jahren konzipierte Musik am modernen Akkordeon klingen kann. Es kommt mir manchmal fast vor, als ob Domenico Scarlatti damals bereits an unser relativ junges Instrument gedacht haben kƶnnte. Das gilt gleichermaƟen fĆ¼r das TƤnzerische, Folklorehafte und den Hang zur Leichtigkeit und zum Improvisatorischen: Vieles an dieser Musik ist mit dem Akkordeon hervorragend umsetzbar.
Auf der anderen Seite bietet ein GroƟteil der Scarlatti-Sonaten ideale Mƶglichkeiten fĆ¼r eine grundlegende handwerkliche Ausbildung am Instrument. Tonleitern, gebrochene Akkorde, schnelle Links-rechts-Kombinationen, SprĆ¼nge, eine differenzierte Schulung in Artikulation und Dynamik, auƟerdem in der sehr wesentlichen UnabhƤngigkeit der HƤnde und viele weitere Aspekte. Ɯber allem steht dabei Scarlattis auƟerordentlich feiner musikalischer Geschmack. So ist die Existenz dieser Sonaten fĆ¼r unser Musikinstrument aus meiner Sicht ein wahrer GlĆ¼cksfall.

Ɯber den Autor:

Akkordeonist Andreas Nebl (geb. 1968) vertritt das Akkordeon durch seine langjƤhrige internationale solistische und kammermusikalische TƤtigkeit und als Leiter der Akkordeonklassen der Hochschule OsnabrĆ¼ck und des Konservatoriums in Trossingen in einer groƟen Bandbreite. Nach dem Studium an der Staatlichen Hochschule fĆ¼r Musik in Trossingen bei Prof. Hugo Noth sowie am Conservatorio Luigi Cherubini in Florenz bei Ivano Battiston und dem 1.ā€†Preis beim Internationalen Kammermusikwettbewerb Val Tidone (Italien) verlagerte er seine KonzerttƤtigkeit hin zur Alten Musik und zeitgenƶssischen Musik. Konzertengagements brachten ihn in fast alle EU-LƤnder, auƟerdem nach Russland, Japan, Korea, China, USA, Argentinien und Kolumbien. Im Herbst 2020 erschien beim Label Castigo seine Scarlatti-CD 20 Sonatas. Die Interpretation dieses Repertoires ist immer wieder auch Thema in seinen Workshops. In seinem Workshop-Beitrag stellt er unseren Leser(inne)n ausgewƤhlte Aspekte vor, wie Scarlatti-Sonaten am Akkordeon interpretiert werden kƶnnen.

Ich entdeckte dabei vor allem eine starke musikalische NƤhe zu einem Vertreter der Wiener Klassik, Joseph Haydn. Beide zeigen in ihren Sonaten immer wieder eine Ƥhnliche klangliche Leichtigkeit, Durchsichtigkeit ā€“ und auƟerdem Humor. Was ich ebenfalls sehr spannend finde ist die enorme Verschiedenheit Scarlattis von der Musik seines Zeitgenossen Johann Sebastian Bach. WƤhrend sich Bachs Musik in ihrer Grundhaltung immer wieder sehr zusammenhƤngend aus sich selbst heraus entwickelt, eine reichhaltige Einheit auf Basis der in der damaligen Zeit modernen Affektenlehre widerspiegelt, lebt Scarlattis Musik immer wieder sehr von der Inspiration, in jedem Moment etwas Ɯberraschendes geschehen lassen zu kƶnnen. Man kann Bachs Musik als vollendet, womƶglich gar als ā€žgƶttlichā€œ ansehen, aber Scarlattis Lebendigkeit und eine damit implizierte Haltung, vor allem den Menschen zugewandt zu sein, ist fĆ¼r mich gleichermaƟen etwas ganz Besonderes. So kann allein schon durch die Auseinandersetzung mit Bach und Scarlatti grundsƤtzlich ein enorm groƟer musikalischer Schatz an emotionalen Erfahrungen und strukturellem Wissen weitergegeben werden.
Nun gibt es kaum einen Komponisten, der in seinem Schaffen durch persƶnliche LebensumstƤnde einen so plƶtzlichen Bruch erlebte wie Domenico Scarlatti. Die Wahl der zu komponierenden Werke in seiner ersten Schaffenszeit ā€“ in der er sich vor allem geistlicher und weltlicher Vokalmusik widmete ā€“ stand noch sehr unter dem Einfluss seines Vaters, dem berĆ¼hmten Opernkomponisten Alessandro Scarlatti. Erst nach dessen Tod (1725) und der Ɯbersiedlung nach Spanien (1729) fand Domenico Scarlatti mit seinen am Ende 555 hinterlassenen Cembalo-Sonaten einen charakteristischen Personalstil, dessen Faszination mit wiederkehrenden AnklƤngen an die spanische Volksmusik bis heute ihresgleichen sucht.
Bei der Interpretation dieser Sonaten ist eine spezielle ā€žEmpfindlichkeitā€œ im Klang eine wesentliche Voraussetzung fĆ¼r die unmittelbar sinnliche Wirkung und die Mitteilsamkeit der auf engem Raum so vielschichtig versammelten Charaktere Scarlattis. KlavierkĆ¼nstler wie Ivo Pogorelich, Cembalisten wie Gustav Leonhardt, und manch andere konnten dies bereits in beeindruckender Weise vermitteln.
Die Scarlatti-Rezeptionsgeschichte am Akkordeon haben im westeuropƤischen Kulturkreis seit den 1970er- Jahren vor allem KĆ¼nstler(innen) wie Hugo Noth, Mie Miki und Teodoro Anzellotti gestaltet. Sie haben in diesem Bereich mit ihren Konzerten und Aufnahmen wesentliche Ƥsthetische MaƟstƤbe gesetzt. Von den gegenwƤrtigen Neuerern der ā€žScarlatti-Interpretenā€œ am Akkordeon ist unter anderem Giorgio Dellarole zu nennen, dessen intensive BeschƤftigung mit der historischen AuffĆ¼hrungspraxis interessante und neue Aspekte bezĆ¼glich des Umgangs mit dem Akkordeon und Scarlattis Musik zutage fƶrderte.

3 Scarlatti Manuskript

Originalmanuskript von Scarlatti in der Biblioteca Marciana

Warum Ć¼berhaupt Scarlatti am Akkordeon?

Zum einen hat es sicher zu tun mit Scarlattis faszinierendem, manchmal scheinbar unendlichem, stets geschmackvoll-verrĆ¼cktem musikalischen Einfallsreichtum, innerhalb einer bestimmten kleineren Formā€…ā€“ā€…der einsƤtzigen Sonate ā€“ spannende ZusammenhƤnge zu entwickeln. AuƟerdem verwendet er meist zwei- bis dreistimmige, schmale, durchsichtige, tƤnzerische und teils sangliche SƤtze. Diese sind in selten weit auseinanderliegenden, gespreizten Stimmlagen angelegt, was insgesamt dem vorhandenen Klangspektrum des Akkordeons entgegen kommt. Dadurch kann Ć¼ber weite Strecken des Repertoires ā€“ eben auch am Akkordeon ā€“ ein abgerundetes, charakteristisches GesamtgefĆ¼ge entstehen.

Neben allgemein-musikalischen Bereichen wie Tempo, Charakter, Figuration, Phrasierung, Transparenz und Sinnlichkeit bzw. Klangschƶnheit gibt es zwei wesentliche Punkte, welche die Interpretation am Akkordeon entscheidend beeinflussen kƶnnen.

1. Die ā€žimaginƤre Instrumentationā€œ: Das bedeutet, dass man den von Scarlatti hinterlassenen Notentext in der geistigen Vorstellung instrumentiert bzw. orchestriert. So verlƤuft beim Spielen je nach StĆ¼ck ā€žim geistigen Hintergrundā€œ ein mehr oder weniger breit ausgestaltetes Farbenspiel anderer Instrumente, das Inspiration fĆ¼r verschiedenste Ausdrucksformen bereithƤlt und zusƤtzlich eine Vorstellung von Stimmenhierarchie bieten kann.

2. Die klangliche ā€ž3.ā€†Dimensionā€œ: Sie beschreibt eine akustisch realisierte RƤumlichkeit der musikalischen Ereignisse. FĆ¼r die akkordeonistische Spieltechnik stellt sich die Frage: Wie gelingt mit den Mƶglichkeiten der Dynamik (Balg) und der Artikulation (zwei Manuale) eine rƤumliche Weite und UnabhƤngigkeit der Stimmen, also eine ausgeformte, vielseitige Spielraffinesse, so dass eine ā€ž3.ā€†Dimensionā€œ hƶrbar wird?

Im Moment des Erreichens greifen Artikulation und Dynamik vielschichtig und flexibel ineinanderā€…ā€“ā€…von grĆ¶ĆŸter NƤhe bis weitester Entfernung ā€“ so dass sehr verschiedene KlangrƤume entstehen kƶnnen.
Denn man darf nicht vergessen: Die heute zugƤnglichen 555 Sonaten von Scarlatti wurden alle fĆ¼r ein anderes Instrumentarium geschriebenā€…ā€“ā€…fĆ¼r Tasteninstrumente mit Saiten, einer anderen Tongebung, Stimmung und Intonation. In den Originalpartituren gibt es kaum Hinweise zu Dynamik oder Artikulation.

AnsƤtze fĆ¼r die Interpretation

Im Folgenden werden sieben konkrete AnsƤtze als eine mƶgliche Antwort auf hƤufige Fragen zur Interpretation von Scarlattis Musik am Akkordeon beschrieben:

1. Wo gibt es voneinander abgegrenzte Figuren und Phrasierungen, denen man jeweils kontrastierende musikalische ā€žGesichterā€œ geben kann?

Beispiel: Sonate K 230

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Die signalhafte Eingangsfigur beginnt den heiteren Allegro-Charakter der Sonate mit einer markanten Staccato-Artikulation und wird gleich im zweiten Takt von zwei dicht aufeinanderfolgenden wirschen, fast gerƤuschhaften Aktionen in der rechten Hand unterbrochen, bevor der grĆ¶ĆŸere Sinnzusammenhang in den Folgetakten ā€“ durchgehend in der linken Handā€…ā€“ā€…wieder von der Eingangsfigur bestimmt wird und im fĆ¼nften Takt in einer abschlieƟenden Kadenz mĆ¼ndet.

2. Wo kann ich die Atmung als eine zusammenhangstiftende UnterstĆ¼tĀ­zung fĆ¼r ā€žSanglichkeitā€œ einsetzen?

Beispiel K 491

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WƤhrend die linke Hand in den Lagen rochierend in steter Staccato-Artikulation eine farbige Begleitung zeichnet, gestaltet die rechte Hand in der Oberstimme einen ā€žGesangā€œ, der durch ein Crescendo und eine aktive AtemstĆ¼tze vorbereitet und in der Folge Ć¼ber zwei Takte fortgesetzt wird

3. Wo lieƟe sich eine ungewƶhnliche Spielraffinesse ausgestalten?

Beispiel K 206

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Die beiden gegenlƤufig gefĆ¼hrten Stimmen werden durch ein kombiniertes, extremes Artikulations- (zwischen Staccatissimo und Molto Portato) und Dynamikspiel (zwischen Forte und Piano) so gestaltet, dass Zuhƶrer ein scheinbar gleichzeitiges Decrescendo (linke Hand) und Crescendo (rechte Hand) wahrnehmen kƶnnen.

4. Wo lieƟen sich spielerisch gƤngige Muster von manuellen AbhƤngigkeiten durchbrechen?

Beispiel K 384

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In einer Forte-Dynamik wird nach dem eingehenden Doppelschlag zu Beginn des Motivs in Takt 11 die Folgefiguration bis zur Verzierung am Ende des Takts im Staccatospiel gestaltet, wƤhrend im Takt danach in einer Piano-Dynamik die komplette Figur im Legato gespielt wird. Die zweistimmigen Begleitakkorde der linken Hand bleiben in ihrer Artikulation Ć¼ber die Takte hinweg stabil.

5. Wie kƶnnten klangmalerische Stellen interessant gestaltet werden?

Beispiel K 158

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Diese tatsƤchlich durch die Triller in der linken Hand und das auffƤllige ā€žSexten-Motivā€œ sehr klangmalerisch angelegte Stelle kann Ć¼ber eine differenzierte, kombinierte Artikulations- und Dynamikgestaltung raffiniert und kontrastreich gespielt werden. WƤhrend in einer Forte-Dynamik zu Beginn das Ā­Sexten-Motiv der rechten Hand sehr offensiv und im Staccato artikuliert wird, kann im Folgetakt die Dynamik komplett auf Piano-Pianissimo reduziert, und dasselbe Motiv auf einmal in einem dichten Legato gespielt werden.

6. Wie kƶnnen Akkordlinien transparent gestaltet werden?

Beispiel K 481

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Die Sonate K 481 in f-Moll gehƶrt womƶglich zu den intimsten Werken Scarlattis. In der hier angefĆ¼hrten, sehr homophonen und auf engem Raum gestalteten Passage ist der Akkordeonbalg in seinem Bewegungsspielraum gefordert, im Gegensatz zu den Manualen dynamisch extreme GestaltungsrƤume zu erschlieƟen. Dadurch erklingt die Musik nicht als Choral, sondern schafft Ć¼ber die begleitenden harmonischen Gebilde ā€“ aufgeteilt in linke und rechte Hand ā€“ Platz fĆ¼r eine empfindsame Oberstimme. Die Zweierverbindungen in der Tenorstimme unterstĆ¼tzen das ruhig mƤandernde KlanggefĆ¼ge und erhalten auƟerdem die Metrik des 4/4-Takts.

7. Wie kann an strukturell unĆ¼bersichtlichen Stellen der Charakter gefunden bzw. aufrechterhalten werden?

Beispiel K 365

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WƤhrend in diesem kurzen Intermezzo der ansonsten sehr tƤnzerischen und vor spanischem Temperament glĆ¼henden Sonate die rechte Hand mit vertrackten Synkopengebilden dialogisiert, bleibt in der linken Hand der eigentliche Tanzcharakter des StĆ¼cks erhalten. Deshalb wird die Artikulation der linken Hand nachdrĆ¼cklich an die Takthierarchie angepasst und die Gesamtdynamik im Sinne eines mƶglichst klaren Klangbildes bis zum Ende der Phrase stabil gehalten.

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Domenico Scarlatti, portrƤtiert von Domingo Antonio Velasco im Jahr 1738 (Foto: Casa Museo dos Patudos, Portugal)

Die vollstƤndigen StĆ¼cke kƶnnen in meiner neuen CD-Produktion ā€ž20 Sonatasā€œ (Castigo) nachgehƶrt werden.

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