Musik unserer Zeit

Akkordeon- und Kammermusikprofessor Stefan Hussong über Repertoire, Hochschule und Konzertleben.

12. Februar 2021

Lesezeit: 16 Minute(n)

Stefan Hussong

Musik unserer Zeit

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Stefan Hussong

Jeder kennt ihn – jedenfalls in der Akkordeonszene, und oft auch darüber hinaus. In bisher drei Jahrzehnten Professorentätigkeit an der Musikhochschule Würzburg und unzähligen Master Classes hat Stefan Hussong eine Menge junge Musikerinnen und Musiker aus aller Welt unterrichtet. Er selbst konzertierte als Solist, mit Ensembles wie dem Ensemble Modern und Sinfonieorchestern wie den Wiener und den Berliner Philharmonikern. Mit Komponierenden arbeitet er eng zusammen, oft kommt die Initiative für neue Werke von ihm. So hat er inzwischen 150 Kompositionen uraufgeführt, und es werden sicher weitere hinzukommen. Beim renommierten Internationalen Akkordeonwettbewerb in Klingenthal ist er Juryvorsitzender. Im Interview spricht der Musiker über die stete Veränderung des Akkordeonrepertoires, die Eroberung der Konzertsäle, sich abzeichnende Trends und den besonderen Zauber von Sinfonieorchestern.

 

Das neue Jahr hat soeben begonnen, es ist Winter, überall geht die Covid-Plage um. In Würzburg findet sich Stefan Hussong, einer von Deutschlands – und weltweit – renommiertesten Akkordeonisten vor seinem Notebook für unser Interview ein. Er ist zu Hause, die Musikhochschule ist wegen des derzeitigen Lockdowns geschlossen.

Sie haben eine über einige Jahrzehnte vielseitige Tätigkeit in der Akkordeonszene, als Professor und als Künstler. Ihre aktuelle Veröffentlichung „Imaginary Landscape“ versammelt ganz junge Werke, zum Beispiel von Hope Lee, Heera Kim und David Eagle. Wie haben Sie diese ausgewählt?

Ich mache etwa alle zehn Jahre so etwas, dass ich versuche, neuere Werke, die ich als wichtig erachte, auf eine CD zu bringen. Manchmal mache ich das unter einem Überbegriff, oder einfach, um zu zeigen, das gibt es und das ist ganz neu.

Es gibt von Ihnen zahlreiche Einspielungen mit sehr neuer, zeitgenössischer Musik, die oft für Sie geschrieben wurde. Andererseits gibt es Repertoires mit Barockmusik, die mehrere hundert Jahre alt ist. Müssen Stücke sehr alt sein oder sehr neu, oder gibt es was dazwischen?

Nicht unbedingt sehr alt oder sehr neu, aber es muss etwas sein, das sich eignet für Akkordeon. Ich kann hingehen und sagen, jetzt probiere ich Schumann oder Schubert einzuspielen. Nur wird man da schnell an eine Grenze kommen, wo das ästhetisch nicht passt und wo man sagt, das ist wirklich Klaviermusik und lässt sich an einem anderen Musikinstrument nicht darstellen.

Was macht das aus, ob sich eine Musik für die Interpretation am Akkordeon eignet?

Zuerst einmal ist ein Punkt, dass man am Akkordeon kein Pedal einsetzen kann. Daher endet die Anwendbarkeit in dem Moment, wenn Musik originär beispielsweise für Klavier geschrieben ist. Ab einer gewissen Zeit gab es in der Musikgeschichte immer mehr diese Spezifizierung, dass Komponisten wollten, dass Stücke auf diesem und wirklich nur auf diesem Musikinstrument gespielt werden soll.

Bei zeitgenössischen Werken haben Sie den Vorteil, dass diese neu und teilweise schon gezielt für Akkordeon komponiert werden. Oft werden sie speziell für Sie als Musiker geschrieben. Wirken Sie dann bei der Entstehung mit den Komponisten zusammen?

Das ist sehr unterschiedlich. Die Zusammenarbeit mit Komponisten ist besonders für ein relativ junges Musikinstrument wie das Akkordeon essenziell, das wird jede Akkordeonistin und jeder Akkordeonist sagen. Ohne Repertoire ist ein Musikinstrument nicht existenzfähig. Deshalb ist das eine unserer wichtigsten und vornehmsten Aufgaben, Repertoire zu schaffen. Meist trifft man sich, probiert aus, zeigt das Musikinstrument. Dann lässt sich relativ bald feststellen, in welche Richtung das gehen könnte. Die Komponisten sagen: ,Das funktioniert nicht, kann ich von diesem mehr im Stück haben, wie kann ich jenes noch einsetzen.‘ Es gibt andererseits Komponierende, die einfach schreiben. Dann passt es entweder, oder man trifft sich nachher und fängt an, einige Dinge besser an das Akkordeon anzupassen.

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„Ohne Repertoire ist ein Musikinstrument nicht existenzfähig. Deshalb ist das eine unserer wichtigsten und vornehmsten Aufgaben, Repertoire zu schaffen.“

Da können Sie nachjustieren, was sich eventuell noch besser umsetzen lässt.

Es sind häufig Dinge, die mit Balance zu tun haben. Es ist schwer, wenn man nicht selbst Akkordeon spielt oder immer eines zur Verfügung hat, die Balance einzuschätzen. Die beiden Seiten Diskant und Bass hängen am selben Akkordeonbalg, und damit ist man als Musiker dynamisch immer ausgeliefert. Wenn ich rechts forte spiele, ist es links eben auch forte, oder ich gehe in Lagen hinein, die das ausgleichen, und arbeite mit Artikulation. Das sind Feinheiten, die man zusammen besprechen und ausprobieren muss.

Sie arbeiten mit einigen interessanten Komponistinnen und Komponisten, etwa mit Sofia Gubaidulina. Wie entstand diese Zusammenarbeit?

Ich habe sie kennengelernt in Salzburg. Da habe ich lange Zeit bei der Sommerakademie unterrichtet, und sie war für eine Saison Composer in Residence. Wir spielten von ihr das Doppelkonzert Sieben Worte. Ich schickte alle meine Studenten zu ihr, die bei dem Kurs waren und Musik von ihr spielten. Das war interessant. Je nachdem, welches Musikinstrument sie verwendeten, kamen alle mit verschiedenen Lösungen wieder. So konnten alle gut nachvollziehen, dass der Notentext erst einmal nur Notentext ist, und es möglicherweise Aspekte gibt, die gar nicht ersichtlich sind. Daher ist Flexibilität notwendig. Ich arbeite mit vielen anderen Komponistinnen und Komponisten. Gestern waren wir mit dem Ensemble Modern  und Rebecca Saunders beim WDR und haben von ihr ein Ensemblestück eingespielt.

War das ein neues Stück?

Das war eines von 2009, also relativ alt, das ich mit dem Ensemble Modern schon über 30 Mal gespielt habe. Jetzt im Coronalockdown dachten wir, wir könnten das einspielen. Wir wollten versuchen, eine Referenzaufzeichnung zu machen.

Wann soll das veröffentlicht werden?

Es ist Teil einer Porträt-CD des Kontrabassisten des Ensemble Modern. Ich denke, es müsste im Februar oder März erscheinen.

Sie arbeiten außerdem mit einigen japanischen Komponistinnen und Komponistinnen, etwa Keiko Harada. Wie sind Sie sich begegnet?

Das war war bei einem Festival für zeitgenössische Musik in Japan, es hieß Akioshidai. Es wurde organisiert von Toshio Hosokawa, ihn kannte ich früher bereits. Keiko Harada war als Komponistin eingeladen, zusammen mit anderen. Ich spielte die Uraufführung eines Werkes von ihr für Akkordeon und Klarinette. Dann fragte ich weitere Kompositionen bei ihr an.

Sie haben eine Menge Uraufführungen gespielt. Ich habe von 150 gelesen. Sind da noch welche dazugekommen?

Letztes Jahr natürlich nicht, wobei, im Februar 2019 hatte ich in Slowenien die letzte Uraufführung, mit einem Stück des dortigen Komponisten Uros Rojko. Das war für Schlagzeug und Akkordeon, eine sehr schwierige, 25-minütige Komposition. Ich habe das seitdem nicht mehr gespielt.

Sind die Komponierenden bei Uraufführungen immer dabei?

Wenn Sie können, sind sie dabei, und das finde ich gut. Denn die Stücke sind ja nicht unbedingt fertig nach der Uraufführung.

Also gibt es nachher weiteren Austausch?

Auf jeden Fall, denn das ist nur der erste Schritt. Manche sagen dann: ,Ok, da würde ich gern noch was ändern.‘ Andere sagen: ,So ist es gut.‘

Haben Sie ein Beispiel, wo Stücke als fertig gesehen wurden?

Zum Beispiel Stücke von Adriana Hölszky, die Solostücke, Ensemblestücke und ein Konzert geschrieben hat. Die sind meistens fertig, wenn sie uraufgeführt wurden.

Wenn Sie Kompositionen aus der Barockzeit spielen, etwa von Frescobaldi, Scarlatti oder Bach, können die aus den vorhandenen Noten gespielt werden oder müssen die erst für Akkordeon arrangiert werden?

Es ist etwa bei Stücken von Bach meist so, dass man sie so spielen kann, wie sie geschrieben wurden. Man spielt dann am Akkordeon auf der rechten und linken Seite so wie am Cembalo mit der rechten und linken Hand. Das einzige, was man aus klanglichen Gründen machen muss, ist, eine Registrierung festzulegen. Am Stück muss man nichts verändern.

„Es ist etwa bei Stücken von Bach meist so, dass man sie so spielen kann, wie sie geschrieben wurden.“

Wie ist es bei anderen Komponierenden aus dieser Zeit?

Ich würde sagen, bis zum frühen Haydn muss man meist nicht viel ändern. Wenn es dann in Richtung Mozart geht, da auf jeden Fall. Bei Kompositionen von Schumann muss man ebenfalls einiges anpassen. Das vorhin Gesagte für die älteren Werke gilt, so lang es Werke für Cembalo sind. Wenn es um Orgelmusik geht, muss man einiges abändern, weil es am Akkordeon kein Pedal gibt. Da muss man den Pedalteil sozusagen mit den Fingern mitspielen. Dafür muss man einiges anpassen, und es ist klanglich oft schwierig.

 Abgesehen von Solokonzerten haben sie mit Ensembles gearbeitet, und mit großen Sinfonieorchestern wie den Wiener und den Berliner Philharmonikern. Ich kann mir vorstellen, dass das ganz besondere musikalische und klangliche Möglichkeiten bietet.

Meist sind das Konzerte für Akkordeon und Orchester, von denen es nicht so viele gibt. Wir bemühen uns natürlich, dass es mehr werden. Das ist immer auch eine Frage von Kosten und Organisation. Wenn man mal die Gelegenheit hat, umso besser. Ich kann nicht behaupten, dass ich vor der Covidpandemie alle zwei Wochen mit Sinfonieorchester aufgetreten wäre. Das kann niemand von sich sagen, so schade es ist (lacht). Da ein Repertoire aufzubauen, ist wesentlich mühsamer als solistisch oder im kammermusikalischen Bereich. Es ist richtig, das ist eine besondere Erfahrung, mit einem solchen Orchester auf der Bühne zu sein. 

„Ich kann nicht behaupten, dass ich vor der Covidpandemie alle zwei Wochen mit Sinfonieorchester aufgetreten wäre. Das kann niemand von sich sagen, so schade es ist.“

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Auftritt in Amsterdam: Stefan Hussong an den Tasten, Irvine Arditti an den Saiten (Foto: the Ijsbreker)

Man stellt sich vor, dass es bei all diesen Streichern, die Sie um sich haben, eine schöne Mischung gibt mit dem Akkordeonklang.

Das ist richtig. Es ist Fluch und Segen zugleich. Der Segen ist der hohe Mischungsgrad, der Komponierende reizt. Der Fluch ist, dass man aufpassen muss, dass das Akkordeon nicht verschwindet, dass also die Mischung nicht zu intensiv ist. Dass ein solistischer Part nicht untergeht, ist häufig eine körperliche Herausforderung, weil man viel stärker spielen muss, oder eine technische, weil man den Sound verstärken muss.

Verstärken Sie in solchen Situationen?

Wo es geht, vermeide ich das, weil ich selten mit dem klanglichen Ergebnis glücklich bin. Es gibt wenig wirklich gute Verstärkungsmöglichkeiten. Mir ist ein geeigneter Saal lieber, wo der Sound entsprechend gut ist.

Wenn Sie verstärken, wie machen Sie das?

Dann muss ein Techniker dabei sein, der das Ganze ausbalanciert und eine gute Soundanlage da hat, die den Akkordeonklang natürlich verstärkt. Alles andere klingt wie aus der Konserve.

Ist es eine Komponente, dass bei Solopassagen das Orchester etwas zurückgenommener spielt, oder die Musik im Aufbau so ist, dass nicht zu viele gleichzeitig spielen?

Wenn der Mensch, der das Konzert schreibt, solche Aspekte im Hinterkopf hat, lässt sich das gut realisieren. Es gibt einige hervorragende Konzerte in großer Besetzung, die so komponiert sind, dass man nicht verdeckt wird und das Akkordeon immer im Vordergrund ist, wo es sein soll. Es gibt Komponisten, die das nicht so berücksichtigen. Wenn dann der Sound nicht verstärkt werden kann, bin ich für ein Holzpodest. Das Visuelle macht schließlich ebenfalls einiges aus. Und ein guter Saal ist dann bedeutsam. Das Akkordeon ist in der Resonanz sehr abhängig vom Raum. In einem Saal mit einer ganz trockenen Akustik hat man keine Chance.

Gibt es Beispiele für Kompositionen, bei denen das mit der Balance gut funktioniert hat für das Akkordeon?

Ein Stück hat Adriana Hölszky für mich geschrieben, das heißt Highway for One. Der finnische Komponist Jukka Tiensuu hat das Werk Spiriti für mich komponiert.

Gibt es Säle, die Balance durch eine besonders gute Akustik herstellen?

Das Konzerthaus Berlin, der Wiener Musikverein, die Laeiszhalle in Hamburg, und einige Säle in Japan, wie die Suntory Hall in Tokio oder die Philia Hall in Kanagawa. Fast immer sind es keine komplizierten Räume, sondern hohe Räume mit Holz.

Es waren wohl gute Akustiker beteiligt.

Wobei einige dieser Säle sehr alt sind. Sie sind oft einfach nach dem Theaterkastenprinzip gebaut, klingen aber immer toll.

Sie haben früher in ganz verschiedenen Städten studiert, in Trossingen, Toronto und Tokio. Was hat sie besonders dorthin gezogen?

In Trossingen an der Musikhochschule war das Hugo Noth, als Dozent und vor allem als Musiker. Wegen ihm habe ich überhaupt angefangen, Akkordeon zu studieren. Wenn ich seine Musik nicht gehört hätte, wäre ich nie auf diese Idee gekommen. Da hätte ich etwas anderes studiert, Biologie oder so. In Toronto war es Joseph Macerollo, der dort an der Universität unterrichtet, weil er das genaue Gegenteil von Hugo Noth war, im positiven Sinne. Er ist ein sehr improvisationsfreudiger, extrovertierter Musiker. Das fand ich sehr interessant, und natürlich war Toronto im Vergleich zu Trossingen von der Stadt her interessanter. Tokio hat mich angezogen, weil ich den Anfängen des Akkordeons nachforschen konnte, dem Klangerzeugungsprinzip. Da gibt es im Chinesischen die Mundorgel Sheng, im Japanischen die Sho. Mich hat interessiert, wo die Verbindungen sind. Also ging ich nach Tokio, um Sho zu studieren.

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Tokio: Komponieren mit Hope Lee und David Eagle (Foto: Keiko Harada)

Bei wem haben Sie das studiert?

Bei Mayumi Miyata.

Spielen Sie das noch?

Nein, das spiele ich nicht mehr (lacht). Das ist einfach deswegen, weil der Aufwand, dieses Musikinstrument einzusetzen, sehr hoch ist. Man muss das aufwärmen zehn Minuten lang, zwischendrin wärmen, abtrocknen, wärmen, dann kann man wieder fünf Minuten spielen.

Wenn Sie jemanden dabei haben möchten, der Sho spielt, laden Sie jemanden ein.

Genau.

Es gibt in Ihrem Repertoire Konzerte und Aufzeichnungen in ganz unterschiedlichen Besetzungen.

Das ergibt sich oft aus den Musikerkontakten und Kompositionen, was gerade komponiert wurde und vorgetragen werden soll. Ich freue mich, dass es so viele verschiedene Besetzungen sind.

Es hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Menge getan in der zeitgenössischen Musik. Es gibt Befürworter, die sagen, das ist die Richtung, in die sich das Akkordeon entwickelt. Andere sagen, dass sie eine tonale Musik bevorzugen, dass sie beispielsweise die Integration von Folklore und klassischen Richtungen weiterbringen möchten. Wo sehen Sie den Schwerpunkt?

Ich würde sagen, je vielseitiger desto besser. Ich denke, das muss jede und jeder für sich beantworten, was sie oder er gern spielt. Was die Reaktionen des Publikums erhöht, das ist ein anderer Aspekt. Ich denke, es ist wesentlich für das Akkordeon, dass wir ein möglichst breites und gutes Repertoire haben, für das es Akzeptanz gibt in der klassischen Musikwelt. Das war lange ein Thema, das Akkordeon in die Konzertsäle zu bringen. Inzwischen ist es dort, und das immer öfter. Das hat vor allem damit zu tun, dass es inzwischen Musik gibt, die dort gehört und akzeptiert wird. Ob das über den Tango Nuevo von Astor Piazolla ist, gute Folkmusik, Jazz, zeitgenössische Musik oder Barocktranskriptionen, finde ich nicht so relevant. Ich würde nicht sagen, diese Richtung stimmt, jene nicht.

War Mogens Ellegaard, der als einer der ersten Pioniere im Bereich der klassischen Musik am Akkordeon gilt, auch für Sie ein Vorbild?

Diese gesamte Generation damals war für uns als zweite Generation natürlich eine Inspiration, ohne die gäbe es uns nicht. Ich habe Mogens persönlich kennengelernt. Wir haben uns oft unterhalten. Er wollte mich nur immer überzeugen, dass ich ein anderes Akkordeon spiele, mit Knöpfen statt Tasten. Das war allerdings keine ernsthafte Diskussion. Er war ein bedeutender und guter Musiker, der zu früh gestorben ist. Er hätte noch viel machen können.

Er wird fast immer als Erstes genannt, wenn es um die Anfänge des klassischen Akkordeons geht. Ist das berechtigt, oder ein wenig ungerecht den anderen gegenüber?

Ich finde es ein wenig ungerecht, den anderen gegenüber. Da sind Hugo Noth in Deutschland und der Schweiz, Matti Rantanen in Finnland, Friedrich Lips in Russland und Joe Macerollo in Nordamerika. Das sind so die wichtigsten, die das Akkordeon vorangebracht haben. Wie es häufig so ist bei solchen Dingen, sind das Charakterköpfe. Die waren sich nicht immer in allem einig. Da gab es Animositäten untereinander. Ich denke, in unserer Generation und den nächsten ist das nicht mehr von Bedeutung, dass man sagt, das ist die russische Schule, die nordamerikanische, die deutsche oder skandinavische. Das gibt es weiterhin, aber ich denke, es vermischt sich sehr.

Vor allem in früheren Jahren haben Sie einige Auszeichnungen erhalten, besonders bei zeitgenössischen Musikwettbewerben. Waren Akkordeonwettbewerbe für Sie interessant, oder weniger?

Das ist nicht etwas, das ich dauernd machen würde, ein Programm über ein Jahr auf Höchstleistung zu bringen, um mich dann zu messen mit jemandem, der das gleiche Programm eventuell ein wenig anders interpretiert. Das fand ich nicht so interessant zu der Zeit. Daher habe ich nur zwei Wettbewerbe gemacht, dann hab ich aufgehört. Es ist heute eine etwas andere Situation, nachdem das Akkordeon im akademischen Umfeld angekommen ist und an Hochschulen weltweit auf hohem Niveau unterrichtet wird. Da ist es für junge Musikerinnen und Musiker ab und zu denke ich schon interessant, sich ab und an zu treffen, zu schauen, wo sie stehen und wo sie hinwollen.

Sie sind an der Hochschule in Würzburg seit geraumer Zeit Professor für Akkordeon und Kammermusik. Was ist Ihnen heutzutage wichtig, Ihren Studierenden mitzugeben, musikalisch oder sonst?

Was überall gelehrt wird, versuche ich natürlich ebenfalls zu unterrichten, von Barock bis zur zeitgenössischen Musik. Es ist oft so, dass die zeitgenössische Musik etwas mehr Vermittlung erfordert. Das funktioniert ganz gut. Wir haben immer versucht, an der Hochschule mit der Kompositionsklasse zusammenzuarbeiten. Außerdem war ich mit meinen Studierenden mal in Kanada an der University of Calgary. Die Kompositionsklasse dort hat für meine Studierenden Stücke geschrieben, sie waren dafür im Austausch über Videokommunikation. Dann flogen wir mit einem DAAD-Stipendium dorthin, spielten die Kompositionen und zeichneten sie auf. Die Studierenden besuchten uns im Gegenzug hier in Würzburg und wir machten dasselbe umgekehrt. Einen solchen Austausch organisierten wir vor einigen Jahren mit der Universität Ongaku Daigaku in Tokio. Ich versuche, Verbindungen herzustellen, so dass meine Studentinnen und Studenten nicht dauernd nur Noten vor der Nase haben und denken: ,Das ist ein schweres Stück.‘, sondern in den Prozess des Kreierens mit einbezogen werden, oder das selbst angehen.

„Ich versuche, Verbindungen herzustellen, so dass meine Studentinnen und Studenten nicht dauernd nur Noten vor der Nase haben und denken: ,Das ist ein schweres Stück.‘, sondern in den Prozess des Kreierens mit einbezogen werden, oder das selbst angehen.“

Trend Vierteltöne?

Stefan Hussong: „In den letzten Jahren kristallisiert sich eine interessante Entwicklung heraus im Akkordeonbereich, was Stimmungssysteme angeht. Normalerweise haben wir eine auf 442 Hz temperierte Stimmung mit 12 Tönen. In den letzten Jahren wird immer mehr verlangt, das zu erweitern. Mich hat beispielsweise das Ensemble Modern angefragt. Der Komponist Enno Poppe wollte vor vier Jahren für sie und Akkordeon ein Stück schreiben, und zwar mit Vierteltönen. Das war der erste Schritt, wo ich sagte: ,Okay, dann probiere ich das zu spielen.‘ Ich ließ mir von einem Musikinstrumentenmacher Stimmstöcke in Vierteltönen bauen. Sie werden immer öfter eingesetzt. Manchmal fragen jetzt schon Musiker nach Dritteltönen oder einer mitteltönigen Stimmung, wie sie früher vor der temperierten eingesetzt wurde. Da man beim Akkordeon selbst schnell Stimmstöcke ein- und ausbauen kann, ist das flexibel einsatzfähig. Das dauert fünf Minuten. Das Akkordeon ist das einzige Tasteninstrument, an dem man festgelegte Mikrointervalle spielen kann. Gérard Grisey hat früh für nicht-temperierte Stimmungen komponiert. Heute gibt es einige, die in Spanien etwa für den Akkordeonisten Iñaki Alberdi vierteltönige Musik schreiben.“

Im Sinne des internationalen Austauschs ist das sicher ebenfalls eine interessante Sache für die Studierenden.

Jetzt wegen Covid zwar nicht, aber normalerweise fragen sie mich immer: ,Wann fahren wir wieder irgendwohin?‘ Was ich außerdem wichtig finde heutzutage: Ich versuche, alle früh ans Ensemblespiel in der Neuen Musik heranzuführen. Da wird dirigiert, anders als bei normaler Kammermusik. Es geht darum, dass die Studierenden lernen, in solchen Ensembles schnell zu reagieren und wissen, wie man dort arbeitet. Das ist eine andere Situation als solistisch oder kammermusikalisch.

Das wird bei vielen ein Teil ihrer Laufbahn sein.

Ich denke, dass etwa jede zweite Woche ein Ensemblestück komponiert wird, in dem Akkordeon in irgendeiner Form integriert ist. Eine Menge Komponisten schätzen das Musikinstrument besonders als Verbindung zwischen Streichern und Blasinstrumenten. Der Komponist Hans Zellner etwa nannte es „Klebstoff“ zwischen diesen Gruppen.

Geht das Akkordeon bei einer solchen Sichtweise nicht ein wenig unter?

Es macht den Ensembleklang reichhaltiger, farbiger und das Akkordeon kann trotzdem in den Vordergrund treten, je nachdem, wie es eingesetzt wird.

Wie viele Studierende haben Sie im Moment?

Es sind 14 in der Klasse.

Ist das die normale Größenordnung?

Normalerweise ist mein Deputat auf zwölf begrenzt. Ich versuche, ein wenig drüberzugehen, wenn das möglich ist.

Studentinnen oder Studenten?

Etwa 50/50.

Wie lang sind Sie bei Ihnen im Studium?

Der Bachelor geht normalerweise über vier Jahre, der Master über zwei Jahre. Dann gäbe es noch die Meisterklasse über zwei Jahre, das soll mal eine Art Doktorat werden. Das habe ich nie erlebt, dass jemand alles bei mir absolviert hat. Das fände ich auch keine gute Idee, nach acht Jahren kennt man sich zu gut. Die Studierenden sollten noch von woanders Anregungen bekommen. Oft kommen Leute von außerhalb nur für den Master hierher, oder nur für die Meisterklasse. Viele, die hier anfangen, bleiben bis zum Master. Wenn sie dann weitermachen wollen, rate ich ihnen, über Erasmus ins Ausland zu gehen.

Also nicht nur an eine andere Hochschule, sondern gleich ein anderes Land.

Genau, idealerweise braucht man dafür ein Flugzeug.

Wie viele Studierende haben Sie schon unterrichtet?

Ich habe hier angefangen 1991, bin also jetzt 30 Jahre da. Es waren also eine Menge, die genaue Zahl kann ich gar nicht nennen.

Das dürfte eine dreistellige Zahl sein.

Ich denke schon. Das muss ich wirklich in den Dokumenten nachzählen.

Gibt es viel Vernetzung zwischen den Musikhochschulen?

Vernetzung in dem Sinne nicht unbedingt, ich denke, es macht jeder sein eigenes Ding. Ich habe gute Kontakte zu den Kollegen in Essen, Weimar, nach München ein wenig, so in etwa.

Hannover wäre ebenfalls naheliegend gewesen.

Da ist derzeit niemand. Die Kollegin Elsbeth Moser hat noch zwei, drei Studierende, die sie bis zum Abschluss unterrichtet. Ansonsten hängt alles ein wenig in der Luft, wie es weitergeht.

Es gäbe sicher jemanden, der das übernehmen würde.

Die Professur müsste ausgeschrieben werden.

Was wäre ein Grund, dass es nicht ausgeschrieben werden könnte?

Finanzielle Aspekte, denke ich. Ich hoffe, die Professur wird ausgeschrieben und sie warten nicht zu lange damit. Denn wenn keine Studierenden mehr da sind, gäbe es womöglich bald eine Situation, wo man sagen könnte: ,Es gibt keine.‘, und man bräuchte keine solche Professur.

Abgesehen von der Musikhochschule, bieten Sie noch Master Classes an?

Im Sommer in der Schweiz und im Saarland, im Herbst meistens in Spanien.

Wie viele nehmen daran teil?

Es sollten nicht mehr als acht pro Dozent sein. Je nachdem, wie viele Kolleginnen und Kollegen unterrichten, sind es daher bis zu 30 Teilnehmer.

Woher kommen die Teilnehmer?

Weltweit. Es sind viele aus China dabei, aus Russland weniger, aber trotzdem einige. Die anderen sind meist aus Europa, besonders aus Skandinavien kommen viele, und in Spanien ist eine Menge los.

In Russland gibt es prominente Personen in der Akkordeonszene, die näher dran sind.

Die Zahl der Lehrenden und Studierenden dort ist sehr hoch, das weiß ich von Friedrich Lips. Am Gnesin Institut haben sie zehn Lehrende, und die haben entsprechende Klassen. Das Musikinstrument hat da in der Folklore eine völlig andere Tradition, ähnlich wie in Serbien und auf dem Balkan.

In China ist diese Kultur noch nicht so lang etabliert. Eventuell besteht etwas größerer Bedarf, sozusagen an der Quelle der Akkordeonkultur Impulse und Wissen zu erhalten.

Die Szene ist sehr interessant. Die Chinesen hatten relativ früh angefangen, ausländische Dozenten einzuladen. Diese waren vor allem aus dem benachbarten Russland. Allerdings war beispielsweise auch Elsbeth Moser dort über lange Jahre als Dozentin tätig. Nach und nach schickten die Chinesen dann Studierende nach Europa. Die kamen nachher wieder zurück und fingen an, Strukturen aufzubauen und das in einem beeindruckenden Maß. Das Niveau ist wirklich sehr hoch, und die Anzahl der Studierenden ebenfalls.

Waren Sie selbst als Dozent dort?

Ich war in Shanghai am Konservatorium, um Kurse zu geben, in Beijing und Tianjin.

Können sie da Ihren Kurs machen und das ist relativ frei in diesem Rahmen, oder ist es so, dass dauernd jemand schaut, was Sie da so machen?

Das nicht, es sind große Hochschulen, hervorragend ausgestattet. Die Kolleginnen und Kollegen kennen sich untereinander. Man unterrichtet so wie hier, natürlich mit Übersetzerin oder Übersetzer. Oder man spricht Englisch. Es gibt entsprechende Konzerte. Man sieht da keine großen Unterschiede, außer, dass WhatsApp, Facebook und Google abgeschaltet werden.

Könnte man sagen, dieser Teilbereich der Kultur ist in sich relativ frei und von anderen Themen ist da wenig zu merken?

Für mich, als jemand, der unterrichtet, gibt es da kaum Unterschiede. Alle sind sehr gastfreundlich. Ich reise immer gerne hin, bin mir allerdings darüber bewusst, dass es dort andere Themen gibt, die in diesem kulturellen Teilbereich nicht so zu bemerken sind.

Was das Musikalische betrifft, sind dort viele engagiert. Es gehen zahlreiche Musikerinnen und Musiker zu internationalen Wettbewerben. Zuletzt hat Zhang Zhiyuan den Trophée Mondial gewonnen.

Wettbewerbe sind ein relevantes Mittel für die Studierenden, etwas, das sie dann in ihrer Heimat vorweisen können. Sie können dadurch außerdem gut reisen. Beim Akkordeonwettbewerb in Klingenthal, wo ich seit einiger Zeit den Vorsitz habe, waren jahrelang vor allem Studierende aus China in den oberen Kategorien. Auch die Kleinen in den jüngeren Altersgruppen waren immer gut vorbereitet.

Derzeit finden zahlreiche Wettbewerbe wegen Covid online statt, zuletzt der Premio Internazionale della Fisarmonica in Castelfidardo und der Trophée Mondiale, im Mai der Akkordeonwettbewerb in Klingenthal. Zum Onlineformat gibt es gegensätzliche Meinungen. Wie sehen Sie das?

Ich sehe es nur als Notlösung, als gleichwertig auf keinen Fall. Es ist sehr problematisch. Wir hatten an den Hochschulen ein ähnliches Problem, nämlich Eignungsprüfungen, die ebenfalls nur online stattfinden können. Dort konnten wir lernen, zumindest zu versuchen, eine Art von Fairness herzustellen. Die Bewerbervideos wurden eingesendet und von einer Jury vor Ort in einem Raum in Echtzeit mit guter Videoqualität angeschaut und bewertet. Das ist meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, das einigermaßen fair zu gestalten. Ich habe in Klingenthal mit dem Organisator dafür gesorgt, dass wir das da genauso machen werden.

Wenn es eine Normalisierung gibt nach der Covidpandemie, werden Festivals, Konzerte und Wettbewerbe wieder größtenteils live stattfinden. Eventuell bleibt etwas von den Onlineformaten weiterhin erhalten.

Den Musikbereich halte ich dafür für nicht so geeignet, und Wettbewerbe schon gar nicht. Allerdings hat alles zwei Seiten. Es ließe sich etwas Positives erkennen, was Wettbewerbe  betrifft. Es gibt Studentinnen und Studenten, die nicht unbedingt gern zu Wettbewerben reisen und vor versammeltem Publikum spielen. Das sind oft keineswegs schlechte Musiker, im Gegenteil. Es sind oft sehr sensible Menschen. Für sie ist die jetzige Situation, in der sie an einem Wettbewerb mit einem Video teilnehmen können, eventuell eine Chance.

Erstmals veröffentlicht in:

akkordeon magazin #78
Februar/März 2021

 

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