Portativ / Organetto = Akkordeon?

Leserbrief zu AM #79, Mai 2021, S. 60 /61, „Renato Borghetti baut Da Vincis Akkordeon“

8. Oktober 2021

Lesezeit: 3 Minute(n)

Portativ / Organetto = Akkordeon?

Liebes Redaktions-​Team der Zeitschrift akkordeon magazin,

zunächst möchte ich sagen, dass ich mich immer riesig freue, wenn ein neues akkordeon magazin kommt. Die Zeitschrift ist wirklich gut gemacht. Gerade die Artikel der letzten Zeit gefallen mir in Stil, Inhalt und ihrer besonderen Zugewandtheit. Wie ich aus den regelmäßigen Rundmails des akkordeon magazins entnehme, würden Sie sich auch über Feedbacks freuen. Deshalb nachstehend einige Gedanken zu Ihrem Artikel.

Renato Borghetti baut da Vincis Akkordeon

Sie schreiben, der brasilianische Musiker Renato Borghetti habe mit seinen Mitarbeitern ein „Akkordeon nach Skizzen von Leonardo Da Vinci“ gebaut. Welch kühne These! Akkordeonskizzen im Mittelalter? Wohl kaum, wie Sie selbst feststellen. Sie vermuten in Da Vincis Skizzen eine frühe Anti­zipation der musikalischen Erfindung „Akkordeon“ von Cyrill Demian (Patent Wien 1829). Borghettis Instrument sieht tatsächlich superschön aus – ein wahres Kunstwerk, exotisch, antik und neu zugleich. Aber haben Sie sich auch einmal den Klang angehört? Ich nehme da eher eine Art von Drehorgel- oder Blockflötentönen wahr, und dies liegt zweifellos an der Art der Tonerzeugung.
In Demians Patentschrift heißt es u. a. „ … In einem Kästchen … sind Federn auf Messing​blatten angebracht … , welche beim Aufziehen (… und Niederdrücken) des Balges ansprechen, … die rechte Hand setzt den Balg in Bewegung …“. Ob der Balg mit der rechten oder der linken Hand bewegt wird, mit den Füßen oder den Beinen, erscheint heute bei der Vielzahl der Modelle und Varianten unwesentlich. Entscheidend für die Definition „Akkordeon“ ist die typische Tonerzeugung durch die im Luftstrom freischwingenden durchschlagenden Zungen (bei Demian „Federn auf Messingblatten“). Das Lexikon der Musikinstrumente definiert es so: „ … Das Akkordeon gehört zur Kategorie der Handzuginstrumente. Beim Akkordeon werden die verschiedenen Töne durch freischwingende, durchschlagende Zungen erzeugt …“ (http://www.lexikon-​musikinstrumente.de/akkordeon.shtml).
Durchschlagende Zungen besitzt das von Da Vinci gezeichnete Instrument offenbar ebenso wenig wie Borghettis Nachbau oder die doch recht zahlreichen, woanders kunstvoll nachempfundenen Objekte. Bei ihnen strömen Luftströme durch hölzerne Pfeifen und bringen einen vollen, warmen Blockflötenton hervor. Ist sein musikalisches Kunstobjekt nicht eher ein Portativ, bei dem er lediglich – warum auch immer – das Manual senkrecht anstatt wie bisher waagerecht stellt? Das Portativ selbst musste jedenfalls um 1500, also zu Da Vincis Lebzeiten, nicht neu erfunden werden, es war als Instrument bekannt und beliebt (s. https://de.wikipedia.org/wiki/portativ) und optisch wie auch akustisch äußerst ansprechend, wie auch die zeitgenössischen Nachbauten.

Es liegt auf der Hand, dass Klangröhren, ob hölzern oder aus Metall gefertigt, sich anders anhören als durchschlagende Zungen. Musiker wissen das zu nutzen und setzen mitunter beides im Zusammenspiel ein.

Bild4

Portativ 1501 – Heilige Cäcilia, Schutzpatronin der ­Kirchenmusik. Gemälde von Bartholomäus Zeitblom (1450–1520), ­Bayerische Staatsgemäldesammlung. Foto: T. E. Ryen

LEserbrief

Engelsdarstellung mit Portativ im Kloster Himmelkron.

Bild5

Die heilige Cäcilia von Rom mit Portativ, zu sehen auf dem Kreuzaltar des Bartholomäus-Meisters um 1490 /1495, ­Wallraf-Richartz-Museum, Köln

Ausgewählte Beispiele für Klang und Aussehen:

Portativ und Akkordeon E. Grieg

www.youtube.com/watch?v=Tc7VU47xZqQ

Mussorgsky – Stary Zamek (The Old Castle)

www.youtube.com/watch?v=q9kWaxrb2Bc

Trio Portativ mit Akkordeon und E-​Gitarre A. Vivaldi

www.youtube.com/watch?v=V5A0LRPXhUk

Solo Portativ / Portative / Portativo / Organetto ­ Ce ti gova aus dem Codex Rossi, gespielt von ­Martin Erhardt, Halle

www.youtube.com/watch?v=AO6Hsf3xeuM

Solo Jazz Improvisation

www.youtube.com/watch?v=hdGf2evWXcg

Grundschüler bauen Orgelpfeifen

www.youtube.com/watch?v=P_Sx6mcILJo
www.youtube.com/watch?v=EpphE41NPeQ

Liebe Akkordeonfreunde, das AM ist gewiss ein anspruchsvolles Blatt von Profis für Profis, aber doch auch für Laien und Liebhaber des Instruments, und vor allem für solche, die es werden wollen und sollen – Sie werben doch dafür! Ich denke der o. g. Artikel ist ein hervorragender Denkanstoß, bedarf aber der Klärung. Nicht jedes Aerophon ist ein Akkordeon. Nicht alles, was einen Falten-​Balg hat, ist eine Quetschkommode. Unser Akkordeon ist ein Durchschlagzungen-​Instrument mit großer Tradition. Es geht, so sagt man, auf die dreitausend Jahre alte chinesische Sheng zurück. Seine ziehharmonische Verwandtschaft ist sehr groß, wobei ihm die Mundharmonika und das Indische Harmonium bezüglich Tonerzeugung näherstehen als Portativ und historisches Organetto. Erfreulich, dass dem Akkordeon heutzutage Bühnen und Konzertsäle in aller Welt offenstehen. Aber was denken die Zuhörer? Was wissen sie? Es ist noch nicht sehr lange her, da fragte mich bei einem Solokonzert von Lydie Auvray in einer hessischen Kleinstadt vor Konzert-​Abo-​Publikum in der Pause eine Dame: „Das klingt alles so schön! Aber wo kommen da eigentlich die Töne raus?“
Da ist noch viel zu tun hinsichtlich Information, nicht wahr? Ich würde vorschlagen, dass Sie dem Artikel über das Da-Vinci-Kunstwerk eine präzisierende Ausführung über die musikalischen Aspekte dieses Objekts von Borghetti (und ähnlichen) folgen lassen und dann später vielleicht mal eine lockere Serie über die verschiedenen Zweige und Familien in der Harmonika-​Verwandtschaft. So wie beim Bandoneon, das wäre prima! Information ist alles.

Mit freundlichen Grüßen,
Ortrun Wagner

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