„Wie hat sich die Pädagogik – unser Tun verändert?

Seit dem Beginn der Pandemie hat sich die Unterrichtslandschaft im Musikunterricht enorm verändert. Unterricht wurde vornehmlich nicht mehr als Präsenzveranstaltung, sondern vielmehr Online angeboten.

2. November 2022

Lesezeit: 6 Minute(n)

Von Andreas Nebl

„Wie hat sich die Pädagogik – unser Tun verändert?

Seit dem Beginn der Pandemie hat sich die Unterrichtslandschaft im Musikunterricht enorm verändert. Unterricht wurde vornehmlich nicht mehr als Präsenzveranstaltung, sondern vielmehr Online angeboten. Gewohntes gab es plötzlich nicht mehr – es mussten neue Formen des Unterrichtens gefunden werden.

Daraus ergeben sich viele Fragen, denen wir als Ausbildungsinstitut, als Kompetenzzentrum für Harmonikainstrumente, gerne auf den Grund gehen wollten.

Was nehmen wir aus der Online-Zeit mit in die Zukunft? Was hat gut funktioniert – was weniger gut? Wie hat sich unsere Pädagogik, unser Handeln und Fühlen verändert? Welche Formate haben sich etabliert, welche sind hinzugekommen? Was braucht es für einen guten Online-Unterricht?

Es geht also um Fragen von Methodik, Didaktik, Haltung, Technik, Equipment, Software…
In mehreren Themenblöcken haben Dozenten des Hohner-Konservatoriums im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Musikpädagogik online – Ein Erfahrungsaustausch“ Input gegeben, diskutiert und so die Fragen beantworten.
Andreas Nebl – Hauptfachdozent für das Fach Akkorden – berichtet bei Musikpädagogik online von seinen Erfahrungen unter dem Thema: Gedanken zur Pandemiebewältigung im Instrumentalunterricht – Wie hat sich die Pädagogik – unser Tun verändert?

Die Pandemie ist inzwischen über ein Jahr alt. Auf eine Art ist sie nach wie vor erschreckend in ihren Auswirkungen selbst, und auch in den zuvor praktisch kaum vorstellbaren Maßnahmen seitens der regierenden Staaten. Gleichzeitig kann man an sich selbst auch einen gewissen Gewohnheitseffekt beobachten, der im Alltag für uns Menschen ja immer wieder auch hilfreich ist: das automatische Händewaschen nach jedem Ausgang aus dem Haus, die griffbereite Maske, das tägliche Aufrufen einer Website mit den neuesten Informationen, das ernsthafte, besorgte Nachfragen bei menschlichen Begegnungen, wie es denn jemandem und den Angehörigen geht.

Das Thema „Wie hat sich die Pädagogik bzw. unser Tun seither verändert? wird man aus meiner Sicht tiefer gehend sicherlich erst zu einem späteren Zeitpunkt aus Fakten nationaler und internationaler Erhebungen sammeln und auswerten können.

Es galt zunächst eine Balance zu finden zwischen den individuellen Bedürfnissen der Studierenden und den hohen pädagogischen Ansprüchen einerseits sowie dem Schutz des Kollegiums mitsamt ihren Ängsten und Unsicherheiten andererseits. 

Auf der anderen Seite wollte ich unbedingt meinen eigenen Anspruch aufrechterhalten, die mir anvertrauten Studierenden zu selbstbewussten, mitfühlenden und selbstständigen Individuen auszubilden.

Ich werde Sie und Euch in diesem Statement wahrscheinlich nun auch mit Dingen konfrontieren, die bereits sozusagen tagtäglich von anderer Seite regelmäßig zu hören bzw. kennenzulernen sind. Trotzdem möchte ich versuchen, hoffentlich auch Neues bzw. meine ganz persönliche Erfahrung mit der musikalischen Pädagogik innerhalb der Pandemie zu beleuchten, bzw. davon zu berichten.

Foto Online-Pädagogik Andreas Nebl

Andreas Nebl beim Onlineunterrichten

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Meine eindringlichste Erfahrung als Lehrkraft während dieser – sagen wir – eher durchschnittlichen Zeit war die folgende: während man allen Ortens sich – zurecht – über die unrealistischen Bedingungen bzgl. des Online-Unterrichts beklagt hat, also dass   

  1. Unterricht im ganzheitlichen Sinn nur sehr eingeschränkt mit allen möglichen Parametern gestaltet werden könne, dass

 

  1. der Raum und der menschliche Körper bei der gemeinsamen musikalischen Arbeit vor den Rechnern nur sehr unklar erscheinen, dass dadurch

 

  1. alles nur mehr tendenziell zweidimensional gedacht und erlebt wird, dass

 

  1. Zeit und Musik dadurch zunehmend rationaler wurden, dass es tendenziell

 

  1. kein echtes Zurücklehnen und Genießen mehr gab, weil man eben durch die Umstände zunehmend tendenziell technokratisch analytischer unterwegs war, dass

 

  1. der musikalische „Zeitbegriff“ zunehmend einseitiger wurde, usw. . Dass was Musik vor allem eigentlich kann, nämlich Zeit relativ wirken zu lassen, nahezu völlig verschwunden ist

 

  1. Dass man einsehen musste, dass musikalische Zusammenhänge und Stimmungen über sprachlich ausgerichtete Werkzeuge wie „Skype“ und „Zoom“ nur sehr bedingt wiederzugeben sind. Usw.

Also… meine vielleicht interessanteste Erfahrung während der bisherigen Zeit der Pandemie war, dass es innerhalb der musikalischen Unterrichts- und Wettbewerbswelt aus meiner Sicht die „Stunde der scheueren, zurückhaltenderen Menschen“ wurde. Also die Stunde der Introvertierteren, die ansonsten eher nicht so gerne vor Publikum spielen, die Musik zwar schon immer innig geliebt haben, die sehr sensibel sind, die nie und keineswegs schlechte Musiker waren, sogar im Gegenteil. Man durfte plötzlich Zeuge werden, wie sie erstarkten, ja auflebten, z.B.

 

  1. Bei eingesandten Videos für durchgeführte Online-Wettbewerbe, die man eben Zuhause mit aller Ruhe und Zeit der Welt, ohne unmittelbares Publikum vollkommen unaufgeregt und gefühlsmäßig ungestört ganz bei sich selbst anfertigen konnte.

 

  1. Man sah sie in der Unterrichtssituation beim räumlichen Abstand zu den „Autoritäten“, den Lehrkräften, die plötzlich in ihrer körperlichen Präsenz so weit weg und damit ihre teilweise „Von-Oben-Ausrichtung“ etwas verloren hatten

 

  1. Man sah sie vor allem plötzlich individuell stärker auf sich selbst fokussiert arbeiten, sie spielten zum Teil zunehmend von selbstbestimmterer Qualität, ohne dass auch z.B. eine Gruppe anderer Menschen sie vielleicht in ein Fahrwasser der Ablenkung bringen konnte.

 

Ja, es gab auch in meiner Klasse tatsächlich Fälle von Studierenden, die sich während der Pandemie besser entwickelt haben als davor. Probleme hatten tatsächlich eher die ansonsten „kontaktfreudigeren“ Studierenden.

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Natürlich hat eine solche persönliche Qualitätsentwicklung auch mit anderen Dingen zu tun, z.B. dass man bei den Zoom- oder Skypesessions als Lehrkraft noch bewusster das Gespräch gesucht hat, auch überhaupt ein soziales Bewusstsein noch tiefergehend gestalten wollte als zuvor. Ich habe tatsächlich auch im Laufe der Monate das Gefühl bekommen, manche Studenten durch die sehr unmittelbare, auf eine andere Art auch unausweichliche „Face-to-Face“-Situation zum Teil besser und intensiver kennengelernt zu haben, als durch die aus heutiger Sicht schier unendlich anmutenden Möglichkeiten der Unterrichtslehre in den Semestern zuvor.

 

Wichtig war für mich von Beginn an:

 

  1. Zu vermitteln, dass man in allen Lebenssituationen die Chancen sieht zu lernen, das Beste aus veränderten Situationen zu machen.

 

  1. Dass man realistisch erkennt, dass der Präsenzunterricht in den Bereichen Erlebnisfähigkeit, Akustik, Klang, Atmung und Echtzeit, Raumgefühl in Musik und persönlicher, ganzkörperlicher Kommunikation NICHT durch digitale Formate wirklich zu ersetzen ist.

 

  1. Dass der digitale Unterricht aber zunächst zumindest eine grundsätzliche und momentan wichtige Möglichkeit ist, überhaupt im notwendigen fachlichen Kontakt zu bleiben

 

  1. Dass nicht in jedem Fachbereich digitale Formate gleichermaßen sinnvoll ein- und umsetzbar sind.

 

  1. Dass sich gleichzeitig inhaltlich der Unterricht per Videokonferenz im Hauptfach im Prinzip nur wenig vom üblichen Instrumentalunterricht unterscheiden muss: Sehr viele wichtige elementare Lernbereiche können mit etwas Kreativität durchaus abgedeckt werden.

 

  1. Dass es wichtig ist, ein gutes WLAN, Mikrofon und Kamera zu haben.

 

  1. Dass ein fester, regelmäßiger Termin als Übeziel und Kontrollfunktion für Schüler und Studenten wichtiger denn je ist. Das Interesse, den Sinn und das Üben aufrecht zu erhalten, wurde während der Pandemiezeit primäres Ziel im Hauptfach-Unterricht.

 

  1. Dass es gleichermaßen wichtig ist auch über die Zeit danach zu sprechen, vor allem Ziele (ganz gleich welcher Art) zu formulieren und die Arbeit danach auszurichten

 

  1. Eine wichtige Erkenntnis wurde auch, dass man plötzlich Fahrtwege zeitlich und räumlich spart – ein Umstand, der besonders für unsere Berufsbegleitenden Studierenden am Hohner-Konservatorium in Zukunft weiter anwendbar sein könnte (weite Fahrtwege/Winter Straßenverkehr).

 

  1. Zunehmend ging ich dazu über, dass Studierende ihre Partien oder Passagen auf Video / Audio aufnahmen und ich Ihnen per Skypetermin dazu ein Feedback gab.

 

  1. des höheren Konzentrationsaufwands vor dem Rechner bin ich mit manchen Studierenden im Laufe der Zeit dazu übergegangen, sich öfters und mit kürzeren Unterrichtszeiten zu verabreden.

 

  1. Vereinzelt begann ich auch mit dem Besprechen von Aufnahmen von bekannten Interpreten: also z.B. der Vergleich von verschiedenen Interpretationen, Aufführungspraxis.

 

  1. Was für manche auch eine Bereicherung wurde, ist der Umstand, den Unterricht durch die digitale Situation sehr leicht aufzeichnen zu können und dadurch später in Ruhe erneut zu reflektieren. So gehen viele Informationen und Details nicht in Vergessenheit.

 

  1. Vereinzelt habe auch ich selbst Passagen für Studierende zum Studium aufgezeichnet.

 

  1. YouTube und andere Musikkanäle bzw. „Tools“ wurden schlichtweg näher und griffbereiter, um als Werkzeug im Unterricht unmittelbar zu dienen – so wurde das Besprechen von zu spielenden Stücken und Werken (z.B. im musikgeschichtlichen Kontext, bzgl. einer harmonischen oder formalen Analyse, oder Interpretationsthemen, ja auch Fingersätze etc. anhand einer vorgeschlagenen Videoauswahl) näher ins Unterrichtsgeschehen mit eingebunden.

 

  1. Aus Gruppenunterrichtssituationen habe ich von Kollegen mitbekommen, dass Studierende z.B. „Live-Webinare, also Referate mit Einbindung von Video-, Audio- und Textdokumenten zu instrumentenspezifischen Themen, vorbereiten durften.

Mein Fazit aus der Pandemie:

Junge Musiker sollten nach der Pandemie zwei Dinge beachten. 1. den Wert und die Bedeutung des echten Lebens, des sozialen Miteinanders, der Atmung, der Körperlichkeit von allem Organischen hochhalten und die Erlebnisfähigkeit diesbezüglich betonen. 2. Sich technisch (Computer, Mikrophone, Kameras, Hardware, Software, Programme) sehr gut ausrüsten, um im durch die Pandemie inzwischen weit geöffneten beruflichen Wettbewerbsraum noch bessere Chancen zu haben, gut arbeiten zu können.

 

Vielen Dank und bleiben Sie alle gesund!

Pressekontakt:

Claudia Boch
Verwaltung
Hohner-Konservatorium Trossingen GmbH
Hohnerstr. 4/1, 78647 Trossingen
Tel.: +49-(0)7425-327016
boch@hohner-konservatorium.de
www.hohner-konservatorium.de

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