Worpsweder Musikwerkstatt

Warum beim Kirchenmusiker Wolfgang Jehn das Akkordeon immer eine besondere Rolle spielte

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3. November 2022

Lesezeit: 9 Minute(n)

Hand auf’s Herz: Kennen Sie das Lied von der Alten Moorhexe? Das Lied stammt aus der Feder von Margarete und Wolfgang Jehn aus dem niedersächsischen Worpswede. Zwei Lieder dieser beiden Musiker wurden sogar von Johannes Strate und seiner Band Revolverheld gecovert. Die Jehns schrieben unzählige Hörspielmusiken, Musiken für Fernsehspiele, Lieder, Kinderlieder und Singspiele. Darüber hinaus schuf Wolfgang Jehn, was vielen nicht bekannt ist, fast 40 Bände für Solo-​Akkordeon, Akkordeon-​Duo und Akkordeon mit Einzelton-​Manual.
Text: Detlef Gödicke Fotos: Familie Jehn Nikolas, Bundesarchiv

Die beiden Söhne Nikolas und David Jehn kümmern sich seit dem Tod ihres Vaters im April 2017 und der Mutter im Oktober 2021 um den musikalischen Nachlass der Eltern. Im Gespräch mit den beiden Vollblutmusikern hat akkordeon-​magazin-​Autor Detlef Gödicke versucht nachzuzeichnen, weshalb Wolfgang trotz eines Kirchenmusikstudiums Zeit seines Lebens die besondere Beziehung zum Instrument Akkordeon bewahrte und im fortgeschrittenen Alter sogar intensivierte.
Wie immer: Ihnen viel Spaß beim Lesen – und Vorsicht, vielleicht spukt die „Alte Moorhexe“ auch schon bei Ihnen herum …

„Die Moral in der Tanzmucke-​Bar war manchmal besser als die zuvor in der Kirche.“

Wolfgang Jehn

  • AM: Wie kam das Instrument Akkordeon in Ihr Haus?

David: Das war eigentlich schon immer da. Komischerweise bin ich selbst zum Akkordeon aber nie gekommen.
Nicolas: Ich auch nicht. Aber unser Vater hatte das Akkordeon eigentlich stets dabei und war gefühlt immer damit unterwegs.

  • Wolfgang studierte Kirchenmusik?

David: Ja, er begann in Wiesbaden, wo er auch unsere Mutter Margarete kennenlernte, die zuvor einige Jahre in Schweden verbracht hatte.
Nicolas: Er hatte nebenbei Akkordeonunterricht – bei Walter Gemmerich, Dietmar Walther und Curt Mahr – und spielte im Hauptfach Oboe und Kirchenorgel.

  • Sein Studienhauptinstrument war also die Kirchenorgel?

David: Genau. Ich kenne niemanden, der wie er mit drei Manualen die Noten vom Blatt spielen konnte.
Nicolas: Unsere Eltern haben jung geheiratet: Mein Vater war 19 und meine Mutter 21. Wolfgang hat tagsüber studiert und abends machte er Tanzmusik, um Geld für die Familie zu verdienen.

  • Welche Rolle spielte bei Wolfgang die Oboe?

David: Mit der Oboe hat er sein Studium begonnen und auch in einem großen Orchester gespielt.

    • Wie haben Ihre Eltern sich kennengelernt?
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Nicolas: Unser Vater spielte in Wiesbaden an einem Abend Tanzmusik in einer Bar, in der unsere Mutter als Kellnerin arbeitete – der „Klassiker“ (lacht)!
David: Nachdem sie zusammengekommen waren, zogen sie recht schnell in den Norden nach Bremen. Dort bekam Wolfgang unter anderem Orgel-​Unterricht bei der Organistin des Bremer Doms, Käte van Tricht, die sich zuvor als eine der ersten Frauen überhaupt in Deutschland als Organistin etabliert hatte.

  • Und dann gleich nach Worpswede …?

David: Nein, zunächst nach Beckedorf, einem Ortsteil der Gemeinde Schwanewede im Landkreis Osterholz.
Nicolas: Von hier stammte unsere Mutter, während Wolfgang ja in Wiesbaden geboren und aufgewachsen war.

  • Ihre Mutter war damals als Schriftstellerin schon sehr erfolgreich. Erzählen Sie davon.

David: Margarete bekam 1964 den Deutschen Hörspielpreis der Kriegsblinden für ihr Hörspiel Der Bussard über uns, da war ich gerade ein Jahr alt.
Nicolas: Sie hat im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Preisen für ihre Hörspiele eingesammelt.

aus dem Bundesarchiv … Mitte Margarete Jehn, rechts Ludwig Ehrhardt, 1964

  • Gab es auch einen Preis für ein Werk der gesamten Familie Jehn, Sie beiden inklusive?

Nicolas: Ja, 1999 bekamen wir den Deutschen Schallplattenpreis für unsere Produktion Was macht die Maus im Sommer?.

  • Wie ging es nach Beckedorf weiter?

David: Wir zogen nach Bremen. Unser Vater bekam eine nebenberufliche Anstellung als Kirchenmusiker in der Zionskirche der Bremer Neustadt.
Nicolas: Er wurde dort bei Bedarf als Organist eingesetzt und leitete neben seiner Tanzmusik zusätzlich den Männerchor Seehausen.

David: Ich erinnere mich an ein Konzert des Chors in Bremen-​Nord. Es gab dorthin Kontakte über unsere Mutter Margarete, die mal im Jugendchor Bremen-​Vegesack gesungen hatte. Viele Jahre später kam heraus, dass bei diesem Konzert in Bremen-​Nord meine spätere Schwiegermutter dabei war und mit unseren Eltern auch zusammen gespielt hatte (lacht).

  • Und Worpswede?

David: Zunächst bekam Wolfgang eine Festanstellung als Organist in einer Kirche in Blockdiek, einem Ortsteil von Bremen-​Osterholz. Wir zogen 1969 dorthin und ich wurde dort auch eingeschult.

Nicolas: Margarete traf irgendwann einen Freund, der im Künstlerdorf Worpswede wohnte und meinte, über ihm werde gerade eine Wohnung frei.

David: Zur Besichtigung nahm sie mich mit. Unsere Mutter war von dem Dorf sofort restlos begeistert und meinte nur: „Ich geh hier nicht mehr weg.“

Nicolas: Wolfgang hat dann seine Festanstellung an der Kirche in Blockdiek gekündigt und wir zogen nach Worpswede.

Hinten von links nach rechts: Nicolas, Jakob, Wolfgang, David, Tanja. Vorne von links nach rechts: Lukas, Almut, Sarah, Margarete, 2005

  • … die Geburtsstunde des Verlags Worpsweder Musikwerkstatt?

David: Nein, noch nicht. Zunächst war es ein großes Wagnis für die Familie, den Weg in die Selbstständigkeit ohne das Einkommen einer Festanstellung zu gehen.
Nicolas: Unsere Eltern arbeiteten in den Folgejahren mit dem Eres Musikverlag in Lilienthal zusammen. Horst Schubert, der Verlagsleiter, veröffentlichte die Kompositionen von Margarete und Wolfgang Jehn mit immer größerem Erfolg.
David: Auch unsere Mutter war mit ihren Hörspielen sehr erfolgreich, sie schrieb unter anderem diverse Folgen für die Kinderserie Papa, Charly hat gesagt. Wir wurden nicht reich, kamen aber klar.

  • War eine Kirchenorgel im Haus?

David: Nein, bei uns stand nur eine elektronische Orgel, eine Farfisa. Die hat unser Vater auch neben dem Akkordeon bei seiner Tanzmusik eingesetzt.
Nicolas: Er hat tatsächlich abends in Bremen-​Walle in der Bar Zum Krokodil mit seiner Tanzmucker-​Band gespielt. Er sagte einmal dazu, dass die Moral in der Bar manchmal besser war als die in der Kirche (lacht).

Wolfgang Jehn als junger Musikstudent mit Oboe, 1956

  • Wann kam es zum Bruch mit dem Eres Musikverlag?

David: Das begann 1982. Horst Schubert meinte, unsere Lieder seien antiquiert, sie kämen nicht mehr an, und er könne sie nicht mehr verkaufen.
Nicolas: Es gab einen mehrjährigen Rechtsstreit, in dem es auch um die Verlagsrechte der Alten Moorhexe ging. Wir hatten einen hervorragenden Anwalt aus Berlin, der im Autorenrecht bestens Bescheid wusste, und schließlich bekamen wir die Verlagsrechte für sämtliche unserer Kompositionen von Eres 1988 zurück.
David: Und 1984 gründeten unsere Eltern dann den Verlag Worpsweder Musikwerkstatt.

  • Das Gesamtwerk Ihres Verlags besticht durch eine besondere Offenheit für Musik aus der ganzen Welt. Können Sie das erklären?

David: Unsere Eltern waren leidenschaftliche Sammler. So sammelten sie auch Musiken und Melodien aus der ganzen Welt. Da Margarete in ihrer Jugend viel Zeit in Schweden verbracht hatte, kamen von dort viele skandinavischen Einflüsse in unsere Musik. Ich habe dieses Jahr mit meiner Tochter in Schweden Ende April ein Konzert gespielt, da hörten für mich gefühlt einige aus unserer Familie „aus dem Himmel“ zu – Gänsehaut pur.

Nicolas: Die schwedische Notenliteratur war zur Zeit von Margaretes Jugend im Land weit fortgeschritten; die hatten Noten von Musiken aus Südamerika bis Südafrika, auch nordamerikanische Musik und indianische Musik. So gab es auch später für unsere Eltern dort viel zu entdecken und zu „sammeln“.
David: Unsere Eltern verabschiedeten sich von uns oft nicht in den „Urlaub“ nach Schweden, sondern sie fuhren zum „Arbeiten“ (lacht).

Nicolas: Sie waren schon immer weltmusikerfahren.

  • Wer hat sich um die CD-​Produktionen gekümmert?

David: Das waren wir Kinder. Wir steuerten die Produktion und sangen auch die Lieder ein. Gerade in den letzten Lebensjahren konnte Wolfgang das auch nicht mehr.
Nicolas: Und so hat er sich dann mehr und mehr wieder dem Akkordeon zugewandt und seine Notenausgaben entwickelt. Außerdem wurde unsere Mutter zuletzt zunehmend dement; wenn ihr Wolfgang auf dem Akkordeon vorspielte, holte sie das oft für einen kurzen Moment zurück und sie empfand Freude.

  • Wie haben Sie die Notenausgaben drucken lassen?

David: Das machen wir über Flyeralarm oder Wir machen Druck. Dort sind auch Kleinstauflagen möglich.
Nicolas: Diese Firmen arbeiten allerdings mit Digitaldruck. Ganz aufwendige Drucke erreichen dadurch nicht ganz die Qualität eines echten Drucks ab einer Auflage von 100 Exemplaren und mehr.
David: Die Vorlage ist den Firmen dabei egal. Wolfgang hat mit dem Notenprogramm Sibelius gearbeitet, das fertige Notenbild dann als eps-​Datei abgespeichert und mit InDesign schließlich das endgültige Seitendesign für die Druckvorlage erstellt.
Nicolas: So arbeiten wir beide mittlerweile auch.

  • Ihr Vater war sehr technikinteressiert. Erzählen Sie davon.

David: Wolfgang war der Erste in unserer Gegend mit einer TEAC-​Vierspur-​Maschine, dann kam eine Achtspur-​Maschine, dann die Alesis-​ADAT-​Digitalmaschinen. Er war auch der Erste, der einen Yamaha DX-​7 hatte; dieser Besitz ermöglichte mir, in einer Band mitspielen zu dürfen (lacht).

  • War Wolfgang auch für Radio Bremen tätig?

David: Ja, er hat viele Rundfunkaufnahmen mit seinem Akkordeon eingespielt, viel zusammen mit Georg Espitalier.
Nicolas: Und er leitete Fortbildungen für Erzieherinnen. Alles, was er machte, hatte dabei seinen musikalischen Anspruch.
David: In den Fortbildungen kam von ihm schon mal der Spruch: „Wenn die nicht singen können, sollen sie rausgehen.“

  • Ihr Vater hat sich im späten Alter der Veröffentlichung einer Vielzahl von Notenausgaben für Akkordeon gewidmet. Können Sie sich das erklären?

David: Initialzündung könnte der Kauf eines Akkordeons mit der Möglichkeit gewesen sein, in der linken Hand Einzeltöne zu spielen. Er kaufte sich ein Roland-​FR-​3X-​V-​Accordion und konnte dann die Knöpfe der linken Hand auf Einzelton-​Manual umstellen. So machte er sich mit dieser neuen Spielweise vertraut.

Nicolas: Er liebte den Sound eines Cassotto-​Instruments. Er besaß eine Hohner Morino, die ihm aber zu schwer wurde. Danach entdeckte er ein Weltmeister-​Cassotto-​374-​Instrument, das deutlich leichter war und, obwohl es nur eine Außen-​Cassotto-​Konstruktion besaß, im Sound erstaunlich nahe an ein Akkordeon mit Innen-​­Cassotto herankam.
David: Als er für sich alles ausprobiert hatte, kaufte er sich als finales Instrument ein Pigini-​Cassotto-​Instrument mit Convertor-​Mechanik im Bass, einem Convertor 55P deLuxe. Dieses Akkordeon hat ihn in seinen letzten Lebensjahren wohl sehr inspiriert und vielleicht auch zu seiner letzten Schaffensperiode beigetragen.
Nicolas: Er schrieb in seinen späten Veröffentlichungen oft dazu: „auch für FreeBass“. Und er interessierte sich für die alternative Schreibweise von Akkorden für die linke Hand, statt einer üblichen Bezifferung suchte er die Schreibweise mit großem M für Dur, kleinem m für moll und so weiter.

  • Spielte die einstmals studierte Orgelmusik für Wolfgang eine Rolle, hat sie ihn beeinflusst?

Nicolas: Ganz bestimmt. Er hat festgestellt, dass das Instrument Akkordeon, das ihn Zeit seines Lebens begleitet hat, in der Version mit Einzeltönen im Bass-​Manual sogar die Möglichkeit bietet, die polyphone Orgelmusik, die er viele Jahre zuvor studiert hatte, für ihn auf dem Akkordeon spielbar zu machen.
David: Unser Vater war ein großer Fan von Grigor Osmanian aus Rostow am Don. Grigor ist ein großartiger Bach-​Interpret auf dem Bajan und hat viele Konzerte auch im Bremer Dom gespielt.

  • Wie stand er zu den Veröffentlichungen von Songs der Popularmusik in Akkordeon-​Fassungen?

Nicolas: Die hat er nicht gemocht. Oft schimpfte er über diese „Veröffentlichungen minderwertiger Akkordeonmusik“, fühlte sich da irgendwie berufen, es besser zu machen, und legte sich sogar mit einigen Notenvertrieben an.
David: Unsere Eltern sind sich selbst immer treu geblieben. Beispielsweise wollte die Firma Hanomag von Margarete Texte für eine Werbekampagne im Stile von Papa, Charly hat gesagt. Obwohl das hervorragend bezahlt worden wäre, hat sie diese Anfrage abgesagt.
Nicolas: Für uns Kinder war das oft zu engstirnig gedacht, aber so war ihre Welt. Wolfgang gab lieber Akkordeonunterricht als sich, seine Arbeit und ihre gemeinsame Weltanschauung zu „verkaufen“.

David: Ich erinnere mich an die Aussage des Vaters eines Akkordeonschülers, der im Beisein von Wolfgang den Wunsch äußerte, Keyboard zu spielen: „Nein, mein Sohn, diesen Apparat machst du jetzt erstmal fertig, dann kannst du das nächste Instrument anfangen.“ (lacht).

Der Autor über Wolfgang Jehn und ein besonderes Déjà-​vu:

Ich erinnere mich an eine Episode in meiner Jugend, ich war wohl circa 15 Jahre alt. Mein Akkordeonlehrer Günther Wodarczyk fragte mich nach einer Unterrichtsstunde, ob ich am Wochenende Zeit hätte, mit ihm nach Worpswede zu fahren, um für eine Ensemble-​Aufnahme Akkordeon zu spielen. Nach meiner Zusage fuhren wir in eine Schulaula, in der wir mit einem gemischten Ensemble von 13 Instrumentalisten „Hits aus alter Zeit“ von Adolf Packeiser einspielten. Ein kauziger Typ war ebenfalls anwesend, der die Mikrofone aufstellte und sich offensichtlich um die Aufnahmen kümmerte. Wie sich Jahrzehnte später herausstellte, war dieser Typ Wolfgang Jehn.

Zeitsprung 40 Jahre später: In der Notenabteilung meines Musikgeschäftes gab es ein DIN-​A5-​Notenheft des Eres Verlags mit dem Titel Musik aus alter Zeit: ein gelbes Heft mit einem Schwarz-​Weiß-​Foto auf dem Titel, das mich immer und immer wieder an etwas erinnerte, was ich nicht deuten konnte. Das Heft fand über die Jahre keinen Käufer; hin und wieder nahm ich das Heft zur Hand, sinnierte über das Foto auf dem Cover und darüber, warum dieses Foto etwas in meiner Erinnerung auslöste. Eines Tages drehte ich den Notenband um und fand auf der Rückseite: ein Schwarz-​Weiß-​Foto, auf dem ich innerhalb des Ensembles mit meinem damaligen Akkordeon und einer damals modernen Schlaghose zu sehen war. Es war tatsächlich der Notenband, zu dem ich als junger Akkordeonschüler auf den Tonaufnahmen mitwirken konnte!

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