Helena Sousa Estévez

Klassisch-zeitgenössische Kostbarkeiten

9. April 2025

Lesezeit: 4 Minute(n)

akkordeon.online präsentiert: Akkordeonale 2025

Spanien ist groß und voller Provinzen mit sehr eigenen (Musik-)Kulturen. Das gilt auch für Galicien im Nordwesten des Landes, woher Helena Sousa Estévez stammt. Folkies denken da schnell an Musiker wie den Dudelsackspieler Carlos Núñez und seine keltisch-galicische Musik. Solche Erwartungen mögen hier aber zunächst enttäuscht werden, denn Estévez’ Genres sind ganz andere. Sie bewegt sich zwischen Barock und Klassik einerseits und Neuer Musik andererseits. Die Akkordeonale, in deren Programm sie in diesem Jahr auftritt, ist ja auch keine Folkmusiktournee im engen Sinne, sondern eine, bei der sich alles um das Akkordeon dreht. Gespielt von Musikschaffenden aus verschiedenen Ländern und Kulturen, die jeweils eine Mischung aus traditionellen Musikstilen ihrer jeweiligen Heimat mit verschiedenen anderen Einflüssen, oft gar mit einer sehr eigenen Experimentierfreude, zu Gehör bringen.

Text: Michael A. Schmiedel; Fotos: Zsolt Szederkényi

Wenn Tourleiter Servais Haanen die Mitwirkenden für eine neue Tournee sucht, dann spielt neben erstklassiger Beherrschung des Akkordeons und einer trotz der Unterschiede vorhandenen Homogenität des Gesamtensembles vor allem auch Sympathie eine Rolle. Tourmanagerin Kristine Talamo-Spiegel erklärt dazu: „Ganz wichtig ist, dass sie einfach supersympathisch sind und wir uns eine Tour mit ihnen vorstellen können.“ Von der Sympathie Estévez’ zeugten schon ihre Antworten per E-Mail auf die Fragen für diesen Artikel.

Helena Sousa Estévez kam schon mit sieben Jahren zum Akkordeon. Sie lernte damals auf einer Musikschule mehrere Instrumente kennen und verliebte sich in ein Cassotto-Akkordeon mit Acht-Fuß-Register und einer „glatten, flachen und reinen Farbe“, das sie lernen wollte zu spielen. Sie begann mit einem Pianoakkordeon, probierte später auch das Knopfakkordeon, blieb aber ersterem als Hauptinstrument treu, wobei sie eines mit einem Standard-Basssystem und eines mit einem freien Basssystem an der linken Hand verwendet. So begleitet ihre linke Hand mit Bässen und Akkorden die Melodie der rechten Hand, und sie genießt, dass sie so jede Art von Musik spielen kann. Sie spielt auch ein wenig Klavier und diatonisches Akkordeon und liebt es, mit allem Möglichen zu experimentieren, so auch mit einer Harmonika und mit einer Hundepfeife. Ein offener Wunsch ist es noch, Bandoneon zu lernen. Letzteres passt zu ihrer Liebe zu Argentinien, wo sie in den letzten Jahren oft war, und zum Tango.

Ihr Schwerpunkt aber liegt in der klassischen und in der Neuen Musik, die sie solo spielt oder in verschiedenen Ensembles, mit denen sie bereits häufig Weltpremieren erlebte. Wichtig ist für sie, sich nicht zu sehr zu spezialisieren. So sieht sie sich, selbst wenn Sie etwa Barockmusik spielt, nicht als Musikerin, die Alte Musik historisch exakt spielen will. Das würde mit einem Akkordeon eh nicht funktionieren, da das Instrument erst im neunzehnten Jahrhundert erfunden wurde. Aber sie geht an jeden Stil mit Respekt heran und versucht prinzipiell, der Idee der Musik gerecht zu werden. Auch Jazz liebt sie, aber sagt dazu: „Improvisation zu meistern ist ein lebenslanger Prozess. Manchmal improvisiere ich allerdings ein wenig, und es macht mir großen Spaß.“ Im Hinblick auf die Neue Musik war es bei ihr indes keine Liebe auf den ersten Ton, sondern sie musste sich erst dort hineinfinden. Heute verteidigt sie sie gerne gegen Kritik.

Wenn sie die Frage nach Höhepunkten ihrer musikalischen Karriere beantwortet, beschreibt sie zuerst sehr persönliche Empfindungen, zum Beispiel: „Die wenigen Momente beim Solospiel, in denen ich mich völlig mit der Musik verbunden fühle, Stress, Ängste und (Selbst-)Kritik beiseite tun kann. Das ist sehr schwierig und sehr selten. Aber wenn die Magie passiert, ist sie so wertvoll.“ Oder: „Es gibt bestimmte Stücke, die mit verschiedenen Ensembles aufgeführt wurden, bei denen ich mich glücklich fühlte, nur für ein paar Sekunden des Stücks oder vielleicht das ganze Stück lang. Dafür bin ich sehr dankbar.“ Darüber hinaus nennt sie Projekte wie die Choroper Exodes von Gualtiero Dazzi und Élisabeth Kaess in Frankreich, dann die Voix Nouvelles Academy in Royaumont, wo sie mit dem Ensemble Linea eine von acht Komponisten verfasste zeitgenössische Oper aufführte, des Weiteren Klassische Musik und Tango mit dem Inner Duo. Wichtig war für sie auch ihr zweites Mal, bei dem sie als Solistin mit einem Orchester spielte, als sie „trotz all dem Stress und der Verantwortung die so wichtige Gänsehaut mancher Passagen in der Musik genoss“. Und sie liebt es einfach, die Welt zu entdecken, Kulturen und Orte, von denen sie nie dachte, sie je kennenzulernen.

Inner Duo mit Alejandra Rony

Folk liebt sie ebenfalls und war daher erstaunt und offen zugleich, als sie für die Akkordeonale angefragt wurde. Über die Musik ihrer Heimat sagt sie: „Traditionelle galicische Musik berührt mein Herz, ich glaube, vor allem, weil sie mich nach Hause bringt. Ein tief dunkelgrüner Wald voller Meigas. Sie ist einfach ein Teil von mir und meiner Art zu sein.“ Meigas sind böse Hexen oder Zauberinnen in Galicien, León und Asturien. Die Musik ihres oben erwähnten Landsmanns Carlos Núñez und andere galicische Musik mag sie sehr, sagt aber: „Ich habe mich so auf klassische und zeitgenössische Musik konzentriert, dass ich nicht viel von ihm gehört habe, aber die wenigen Sachen, die ich kenne, genieße und liebe ich wirklich. Außerdem scheint er eine tiefe Verbindung zu der Musik zu haben, die er spielt, und taucht in die Szene ein, in der er sich bewegt, lebt die Musik. Außer ihm kenne ich – vom Zuhören und auch einige von ihnen persönlich – wunderbare galicische Musikschaffende, ob im Folkstil oder nicht.“

Aus persönlichen Gründen lebt sie nun in Rotterdam und meint dazu: „Heute, Jahre später, fühle ich mich hier wohl und glücklich. Ich versuche, ein ausgeglichenes Leben zu führen und aufrechtzuerhalten. Ich bin stolz auf den Job und das Netzwerk, das ich mir selbst aufgebaut habe und das jetzt von alleine zu funktionieren scheint. Ich bin allen Menschen dankbar, die mir auf jede erdenkliche Weise geholfen haben, hier als Musikerin aufzuwachsen.“ Servais Haanen sei wohl im Internet auf sie gestoßen, und nach anfänglicher Skepsis sei sie nun sehr gespannt auf die Akkordeonale.

Die Frage, was Musik für sie bedeutet, beantwortet sie so: „Musik ist, glaube ich, für jeden Menschen Sauerstoff. Sie ist in unserem Leben viel wichtiger als wir manchmal denken. Erstens umgibt sie uns die ganze Zeit, überall. Wenn sie gut gewählt ist und der Kontext, der Ort und die Person, die zuhört, zusammenpassen, erzeugt sie ein sehr schönes Gefühl in einem. Sie macht deinen Kaffee schmackhafter, deine Unterhaltung verbundener, deine Wartezeit weniger anstrengend, deine Nerven ruhiger, deine Aufmerksamkeit fokussierter, sie kann dein Herz, deine Seele oder woran auch immer du glaubst erreichen, sie kann dir eine wundervolle Erinnerung bescheren, die nie vergeht, sie kann dich mit der Energie einer Stadt oder der Menschen, die dort leben, verbinden …“

www.helenasousa.com

www.innerduo.com

www.akkordeonale.de

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Werbung

L