Akkordeon-Jazz aus dem Königreich: Jonny Kerry

Im Interview sprachen wir mit dem Sänger und Akkordeonisten über seine bisherige Karriere, Inspirationen und seine musikalischen Wurzeln.

30. Januar 2022

Lesezeit: 6 Minute(n)

Interviews

Akkordeon-Jazz aus dem Königreich: Jonny Kerry

In seiner Heimat ist Jonny Kerry so etwas wie ein musikalischer Exot, denn obwohl Großbritannien für eine Menge künstlerischer Strömungen bekannt ist, gehörte Akkordeonmusik bisher eigentlich nicht wirklich dazu. Mit einer stilistisch anspruchsvollen Mischung verschiedenster Genres arbeitet ein engagierter und mittlerweile weltweit bekannter Musiker aber daran, das Balginstrument auch auf seiner Heimatinsel einem größeren Publikum näherzubringen – und das mit wachsendem Erfolg. Im Interview sprachen wir mit dem Sänger und Akkordeonisten über seine bisherige Karriere, Inspirationen und seine musikalischen Wurzeln.

Interview: Markus Thiel Fotos: Archiv

  • Markus: Was ist die erste musikalische Erfahrung, an die du dich erinnerst?

Jonny: Die Faszination für das Klavier entwickelte ich in meinem Elternhaus, als ich etwa vier Jahre alt war. Ich saß stundenlang vor dem Instrument und hörte mir die Klänge an, die man damit produzieren konnte.

Meiner Erinnerung nach gab es auch ein von meinen Eltern eingerichtetes Aufnahmestudio in unserem Haus. Ich bin in einer sehr musikalischen Familie groß geworden, in der es normal war, abends zu den Klängen der im Stockwerk unter uns probenden Familienband einzuschlafen. Das erste Konzert, zu dem ich je gegangen bin, war ein Konzert meiner Eltern mit der Familienband, bei welchem mein Bruder und ich vor der Location die Tickets verkauften. Unsere Familie war wirklich sehr musikalisch – meine Großeltern mütterlicherseits spielten beide Blechblasinstrumente in der Heilsarmee, während meine Großmutter väterlicherseits eine ausgezeichnete Pianistin war, die alles nach Gehör spielen konnte. Mein Urgroßvater war Posaunist. Obwohl ich sein Instrument erbte, habe ich nie zu spielen gelernt. Mein älterer Bruder ist ein hervorragender Gitarrist, mein jüngerer Bruder spielt Kontrabass und meine Stiefschwester ist Jazz-​Sängerin.

  • Warum hast du dich von allen Instrumenten für das Akkordeon entschieden, besonders vor dem Hintergrund, dass alles mit dem Klavier angefangen hat?

Mit 16 kaufte mir mein Großvater ein Akkordeon, in das ich mich auf der Stelle verliebt habe. Es war wie etwas, was man noch nie in seinem Leben zuvor gesehen hatte. Das Spielen machte mir großen Spaß und ich durchforstete das Internet nach Künstlern, die dieses Instrument ebenfalls spielten. Als Kind war ich anders als die anderen, und ich besaß bereits viel Vorstellungskraft und Fantasie. Mir gefiel die Tatsache, dass es in Großbritannien nicht besonders viele Menschen gab, die mein Instrument spielten.

Ich mag die Herausforderung, Menschen für das Akkordeon zu begeistern und es für sie in ein neues Licht zu stellen. Ein weiterer Grund, warum ich das Akkordeon liebe, ist die Tatsache, dass man dank des Balges damit Noten und Akkorde halten und kontrollieren kann, und ich liebe natürlich auch die verschiedenen Sounds, die sich mit den Stimmzungen erzeugen lassen. Es ist zudem ein sehr expressives Instrument. Ferner finde ich es einfach toll, dass man es so einfach mit auf Reisen nehmen kann.

Fabio Furia
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  • Hat es dich unmittelbar zum Jazz hingezogen? Wo liegen deine musikalischen Wurzeln?

Als ich das Akkordeon entdeckte, begann ich zunächst mit Folk-​Musik. Meinen ersten Auftritt hatte ich mit der Band meiner Familie – neben meiner Mutter, meiner Tante und meinem Onkel. Jazz wurde bei uns zu Hause während meiner Kindheit nie gehört. Meinen ersten Kontakt zum Jazz hatte ich mit 16 bei einer Manouche-​Jazz-​Session in Newark – die Session wurde von Studierenden aus Frankreich organisiert, die am College Geigen- und Gitarrenbau studierten. Seit diesem Tag bin ich fasziniert vom Manouche-​Jazz und der Musik von Django Reinhardt. Ich liebe die komplexen Harmonien im Jazz, das amerikanische Real Book und die Geschichte dieser Musik. Ich war schon immer ein melodiöser Musiker und liebe gute Melodien. Einer meiner Lieblings-​Jazz-​Standards und ein anschauliches Beispiel für schöne Melodiekomposition ist für mich My One And Only Love.

  • Wie würdest du die Beziehung zu deinem Instrument beschreiben?

Ich fühle mich mit meinem Instrument sehr verbunden, es ist wie ein Teil von mir. Ich muss wirklich jeden Tag spielen – wenn ich es nicht tue, fühlt es sich sofort komisch an. Der Balg ist der für mich wichtigste Teil des Instruments, er bestimmt, wie man das Akkordeon hält, und haucht der Musik Leben ein. Ich bin sehr glücklich mit meinem momentanen Akkordeon von Victoria, es ist ein wunderschönes Instrument mit einem traumhaften Sound. Da ich ein ziemlicher Perfektionist bin, hat mich das Instrument aber über die Jahre auch schon sehr frustriert, denn dieses Instrument ist einfach schwierig zu meistern.

  • Wer hat dich auf deinem Weg beeinflusst und inspiriert?

Als ich mit dem Akkordeonspiel begann, gehörte der französische Komponist Yann Tiersen zu den Künstlern, die mich am stärksten beeinflussten. Als ich mich dann weiterentwickelte, entdeckte ich relativ schnell die Musik von Django Reinhardt, Ludovic Beier, Richard Galliano, Art Van Damme, Marcel Loefller, Astor Piazzolla und Frank Marocco. Durch meine Beschäftigung mit dem Gesang begann ich, zusätzlich Nat King Cole, Frank Sinatra und Tony Bennett zu hören. Auch wenn ich im Großen und Ganzen eigentlich Autodidakt bin, habe ich eine Menge Ermutigung und Hilfe durch einen außergewöhnlichen US-​amerikanischen Jazz-​Akkordeonisten namens Frank Petrilli erhalten. Er war so nett und half mir bei der Entwicklung meiner Technik und meines Spiels. Zudem hatte ich das Glück, den französischen Akkordeonisten Richard Galliano nicht nur kennenzulernen, sondern auch von ihm lernen zu dürfen. Meine Hauptinspiration ziehe ich aus dem regelmäßigen Hören der großen Jazz-​Meister via Spotify. Dabei höre ich oft einen neuen Song, den ich unbedingt lernen muss – das hält meine Inspiration und Motivation frisch.

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Fabio Furia
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  • Ausgehend von den Stücken, die ich mir angehört habe, bekomme ich den Eindruck, dass du dich eigentlich in enorm vielen Genres zu Hause fühlst. Wenn du dich für eines entscheiden müsstest, welches wäre es und warum?

Ich lasse mich nicht gerne in eine musikalische Schublade stecken. Wenn ich mich allerdings entscheiden müsste, denke ich, es wäre der Manouche-​Jazz, der Stil also, mit dem alles begann. Dieses Genre verbindet Jazz, French Musette, Bossa Nova, klassische Musik und Folk. Ich denke, dieses Musikgenre geht mir deshalb so nahe, weil es mich mit offenen Armen empfangen hat und als Stil so gut zu meinem Instrument passt. Für mich ist es so eine Art romantische Vision von Paris, Italien oder Spanien. Ich erinnere mich noch an die belustigten Blicke der anderen Musiker, als ich auf einer Jamsession in einer benachbarten Stadt mein Akkordeon auspackte. Sie schienen sagen zu wollen: „Was willst du hier mit deinem komischen Instrument?“ Sie hielten mich für einen schlechten Musiker und ignorierten mich weitestgehend, ohne mir auch nur ein Solo zu gestatten. Ich fühlte mich von der Jazz-​Szene immer zurückgewiesen. Ich glaube, das ist auch der Grund dafür, dass mir der Manouche-​Jazz näher ist, denn er gibt mir eine Komfortzone mit jeder Menge Möglichkeiten, mich als Musiker zu entfalten.

  • Du hattest sogar einen Gastauftritt in der Serie The Peaky Blinders. Wie war es für dich, auf einem Filmset zu spielen?

Das Spielen auf einem Filmset ist wirklich sehr aufregend. Zudem war ich bereits ein großer Fan der Serie, als sie mich fragten. Eine tolle Erfahrung: Ich hatte die Ehre, die Hauptdarsteller zu treffen und einen Einblick in die Art und Weise zu erhalten, wie solche Programme und Filme gemacht werden. Ich würde wirklich gerne mehr in TV-​Shows oder an Soundtracks mitwirken.

  • Dein aktuelles Album Castelfidardo wurde in sehr speziellen Zeiten in einer noch spezielleren Location eingespielt. Kannst du uns etwas über den Produktionsprozess erzählen?

Das Londoner Aufnahmestudio ist in einem umgebauten Leuchtschiff untergebracht und hört auf den Namen Lightship 95. Der Engineer Dave Holmes ist ausgesprochen talentiert und hat uns sehr dabei geholfen, das Album zum Leben zu erwecken. Auf einem Schiff aufzunehmen war eine großartige Erfahrung, und ich habe das Gefühl, dass es auch zu der Musik, die wir spielen, außergewöhnlich gut gepasst hat. Die Vorbereitung des Albums inklusive des Schreibens aller Kompositionen und Cover-​Arrangements hat knapp zwei Jahre in Anspruch genommen. Aufgenommen haben wir dann alles im Zeitraum von knapp einer Woche – davon das meiste live. Alle am Album Mitwirkenden haben ihr Bestes gegeben und ich bin sehr stolz auf das Ergebnis. Ich investiere eine Menge Zeit in die richtige Organisation einer Aufnahmesession. Ich habe einen Studioplan angefertigt, damit während der Aufnahmen alles glattläuft, wir uns rundum auf unser Spiel konzentrieren können und jeder eine gute Zeit hat. Es ist essenziell, dass sich keiner der Musiker während der Aufnahmen gestresst oder gehetzt fühlt. Bei meinem ersten Album The Quartet habe ich viel über Produktion und die Organisation von Recordingsessions gelernt. Ich genieße den Prozess, ein Album zu organisieren, zu schreiben und zu planen, und ich kann es kaum erwarten, in der Zukunft weitere zu veröffentlichen.

  • Gibt es – abgesehen vom aktuellen Album und der Arbeit mit deinem exquisiten Quartett – noch andere Projekte und Kooperationen, über die du schon sprechen kannst?

Im Moment schreibe ich wirklich viel, und es ist bereits ein weiteres Album mit meinen Kompositionen in Planung. Ich habe ebenfalls vor, ein paar Duo-​Alben mit verschiedenen Musikern einzuspielen. Ich finde es aufregend, Musik zu planen und zu veröffentlichen. Leider ist das Veröffentlichen von Musik aber auch sehr kostenintensiv, was dazu führt, dass ich leider nicht jedes Jahr ein Album veröffentlichen kann.

Jonny Kerry | UK Accordionist and Composer

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