Für nordische Musik braucht man bisweilen ein wenig Zeit. Das liegt nicht daran, dass sie sperrig ist oder gar gewöhnungsbedürftig. Nun, vielleicht schon auch, aber das ist kein Kriterium für gute oder schlechte Qualität. Es ist schlicht so, dass viele Künstler aus Nordeuropa ganz oft zum einen ihre eigene Folklore heranziehen und dann auch keinerlei Scheu vor modernen Einflüssen haben, die sie obendrauf packen. Ein gutes Beispiel hierfür sind Rüüt aus Estland. Das Quartett aus dem Baltikum nimmt die Volksweisen ihrer Heimat, um daraus neue Musik zu erschaffen. Das geschieht, nach eigenen Angaben, „gegen den Strich neu gebürstet“. Und ihr Album „Kiriküüt“, das in nur 34 Minuten zehn Stücke bereithält, braucht mehrere Durchläufe, bis man es versteht. Genauer: Bis man die Musik versteht. Denn die estnischen Texte dürften nur die allerwenigsten hierzulande verstehen können. Aber getreu dem Aerosmith-Motto „Let the Music do the Talking“ muss man das auch nicht. Es gibt genügend Musikstile, in denen der Gesang ein weiteres Instrument darstellt, die Botschaft hinter den Texten nicht primär wichtig ist. Was bei „Kiriküüt“ deutlich wird: Die Lieder sind fröhlich, etwa das Titelstück oder „Kadrile“. Sie versprühen Lebensfreude, was durch die Kombination von Gitarre und Akkordeon als Hauptinstrumente noch verstärkt wird. Nordische Melancholie? Nicht mit Rüüt. Stücke wie das treibende „Jännupoig“ oder die pulsierend-fröhliche „Poissmehe Polka“ vertreiben Kummer, Sorgen und negative Gedanken. Wenn man ihnen ein bisschen Zeit zum Eingewöhnen gibt.
Wolfgang Weitzdörfer
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