Der Autor Peter M. Haas lebt in Berlin, spielt und unterrichtet Klavier, Akkordeon, Bandoneon.
Jazzkompositionen geben sich mit der einfachen Harmonik, wie alle Akkordeonspieler sie von Anfang an lernen, nicht zufrieden. Jazz benutzt komplexe Akkorde. Viele dieser komplexen Akkorde müssen gar nicht in der Begleitung umgesetzt werden; aber die wichtigsten Jazzakkorde musst du kennen, und du musst die wichtigsten Grundkenntnisse über Jazzharmonik besitzen.
In diesem Praxis-Guide werde ich die typischen Akkordbewegungen („Progressionen“) des Jazz zeigen, zusammen mit ihrer möglichst bequemen Umsetzung auf den Knöpfen. Zunächst aber müssen die Grundlagen erklärt werden: Wie sind Jazzakkorde prinzipiell aufgebaut, welches sind die wichtigsten, grundlegenden Jazzakkorde, und auf welche Weise greifen wir sie am besten auf den Knöpfen unseres Standardbassfeldes?
1. Leadsheet
Jazzkompositionen werden sehr oft im „Leadsheet“ präsentiert. Auf den Leadsheets steht keine ausgeschriebene Begleitung, sondern lediglich die Melodiezeile, ergänzt um die Akkordsymbole, die von Spielerinnen und Spielern aller Instrumente gelesen werden können. Das sind aber komplexere Akkordsymbole, als sie den Normalverbrauchern gewohnt sind. Den Bezeichnungen für Dur- und Mollakkord sind Ziffern nachgestellt, teilweise auch höhere Ziffern wie „11“, und in manchen Fällen gar Ziffern, denen ein Versetzungszeichen vorgestellt ist. Oh je – muss man das alles spielen?
Beautiful Love – ein typisches Leadsheet
2. Vorsicht – Falle!
Mache nicht den Fehler zu glauben, jede Bezifferung eines Jazzakkordsymbols müsse akribisch auf den Bassknöpfen umgesetzt werden! Bei einigen ist es nötig, bei vielen anderen wäre es aber unnötig kompliziert, manche Akkorde würden sogar entstellt klingen.
Was man am besten tut, entscheiden oft auch der Stil und der gewählte Begleitgroove. Ich werde das später an typischen Akkordfolgen und ausgesuchten Beispielen zeigen.
3. Grundlagen I: Wie sind Jazzakkorde aufgebaut?
In der alltäglichen Liedharmonik haben wir es mit Dreiklängen zu tun: Grundton, Terz und Quinte klingen zusammen und bilden den Dur- bzw. den Molldreiklang.
In der Jazzharmonik sind die Basisakkorde nicht Dreiklänge, sondern Vierklänge:
Diese wichtigen Basisvierklänge solltest du gut kennen, und du solltest auch wissen, wie du sie bei Bedarf auf den Bass-/Akkordknöpfen spielen kannst.
Durch sogenannte „Optionen“ können die Vierklänge weiter ergänzt werden – das sind zusätzliche Akkordtöne, die der Spieler in der Klangkrone des Akkordes hinzufügt:
Mit den Optionen eröffnet sich eine faszinierende Klangwelt; es ist ein großes Vergnügen, sie nach und nach kennenzulernen. Das wird aber fast ausschließlich auf den Tasten passieren. Nur in einzelnen Fällen sind diese komplexen Akkorde für die Begleitung der linken Hand brauchbar; dann aber leisten sie uns wertvolle Hilfe, bestimmte Akkordverbindungen bequem zu fingern.
4. Hier zu Beginn: Erste Faustregel für die Praxis
Hier folgen noch einmal die wichtigsten Akkordsymbole – mit Tipps, wie du sie umsetzen kannst. Dazu zeige ich dir häufige Schreibvarianten, denn die Schreibweise wurde nicht verbindlich genormt.
5. Die drei wichtigsten Vierklangstypen …
Nach diesen nötigen Vorklärungen können wir endlich konkreter werden. Hier noch einmal die drei grundlegenden Vierklangstypen in der Übersicht:
Durakkord plus große Septime: „Major Chord“
Der Durdreiklang kann mit der großen Septime zum Vierklang erweitert werden. Im Akkordsymbol wird dem Großbuchstaben ein „maj7“ nachgestellt. Man schreibt also Cmaj7 und spricht „C-major-sieben“ (major wird englisch ausgesprochen) oder einfach „C-major“.
Mollakkord plus kleine Septime: „Minor Chord“
Der Mollakkord kann mit der kleinen Septime zum Vierklang erweitert werden. Im Akkordsymbol wird dem Großbuchstaben ein „m7“ nachgestellt. Man schreibt also Cm7 und spricht „C-moll-sieben“. Im Englischen wird dieser Akkord als „Minor Chord“ bezeichnet.
Durakkord plus kleine Septime: „Dominant Chord“
Ein dritter Vierklang kommt dazu, den du längst kennst: der Dominantseptakkord, also der Durakkord mit kleiner Septime. Im Akkordsymbol wird dem Großbuchstaben eine 7 nachgestellt. Man schreibt also C7 und spricht „C-sieben“. Manche Musiker sagen auch „C-dominant“.
6. … und wie wir sie greifen können
Der „Dominant Chord“ ist der Einzige, für den wir einen Knopf besitzen. Dazu muss also gar nichts weiter gesagt werden. Für die beiden anderen Akkorde brauchen wir einen Trick. Betrachte den Dur- und den Mollvierklang noch einmal genau, und du wirst sehen, dass sie jeweils einen bekannten Dreiklang enthalten: Lässt man von Cmaj7 den Grundton weg, bleiben die Töne von Em übrig; lässt man von Cm7 den Grundton weg, erhält man Ebm!
Die folgende Grafik zeigt, wie wir sie vom Grundbass C aus greifen können. Wer nicht klassisch gelernt hat, dem werden diese Griffe zunächst etwas sperrig anmuten. Es sind aber tatsächlich die korrekten Griffe, die von vielen Spielern oft und gerne angewendet werden:
Natürlich kann man entsprechende Griffe auch vom Terzbass aus bilden. Das geht allerdings bei kleineren Instrumenten nicht von jedem Basston aus, für „Cm7“ und „Cmaj7“ brauchen wir ein 96-bässiges Instrument. Hier zeige ich die Griffe, in bequemer Mittellage, für die beiden Akkorde „Emaj7“ und „Em7“:
Quintfall – was ist das?
Für harmonische Spannung ist der Quintfall das entscheidende Stichwort. „Quintfall“ nennen wir jede Akkordfolge, deren Basstöne Akkord für Akkord um eine Quinte abwärts fallen, bis die Akkordfolge ihr Ziel (nämlich den Grundakkord, die sogenannte Tonika) erreicht.
Am Akkordeon heißt das (denn unser Bassfeld folgt der Anordnung des Quintenzirkels): Akkord für Akkord bewegt sich der Grundton auf unserem Bassfeld abwärts.
Der einfachste, elementare Quintfall ist die klassische Schlussformel „G7 C“.
Eine im Jazz sehr wichtige und häufige Formel ist die Folge
Mollseptimakkord auf Stufe II z. B. Dm7
greife D + fDominantakkord auf Stufe V z. B. G7
Tonika auf Stufe I z. B. Cmaj7
greife C + emalso im Zusammenhang: Dm7
G7 Cmaj7Diese Folge ist im Jazz so allgegenwärtig, dass sie inzwischen als „Jazzkadenz“ bezeichnet wird. Im Stück Tune Up von Miles Davis begegnest du immer wieder dieser Jazzkadenz, nacheinander auf verschiedene Grundtöne bezogen (siehe das Leadsheet am Schluss dieses Artikels).
Hier siehst du, wie wir die Folge dieser Jazzkadenz auf den Knöpfen greifen können:
Folgende Fingersätze sind optimal:
Dm7 | D + f | G7 | Cmaj7 = | C + em |
---|---|---|---|---|
3 + 5 | 4 | 5 + 2 |
Wer nicht klassisch gelernt hat, dem werden diese Griffe erstmal etwas sperrig vorkommen. Schon jetzt will ich ankündigen: Für bequeme Spieler gibt es noch eine Griff-Alternative, die um einiges lässiger zu fingern ist. Die werde ich in der nächsten Folge zeigen.
Changes In Tune
Das oben bereits erwähnte berühmte Stück von Miles Davis, Tune Up, besteht ausschließlich aus genau solchen Akkordfolgen, mehrfach im Quintenzirkel verschoben. Das hier gezeigte Stück Changes In Tune hat die gleiche Akkordfolge.
Wir greifen in der ersten und vierten Zeile:
Em7
greife E + gDmaj7
greife D + fismWir greifen in der dritten Zeile:
Bbmaj7
??? finde die Griffe selbst!Als Begleitung würde ich hier eine ruhig liegende Balladenbegleitung empfehlen, in der der Basston auf Zählzeit 1 gespielt wird und der Akkord auf Zählzeit 2 dazu kommt:
So weit erstmal. Bis bald.
Viel Spaß!
Euer Peter M. Haas
Guten Morgen Peter, hab vielen Dank zu deinen super Erläuterungen, die ja zum Tell aber unglaubliche Fingerakrobatik mitnsich bringen. Den Major-Akkorden bekomme ich auf meiner 120-Bass Delicia nur mit sehr viel Mühe gegriffen. Daher habe ich die Frage, ob man nicht bei einem Cmaj7 nicht einfach auch C als Grundton-C-Akkord und dann den daneben liegenden G-Akkord greifen kann. Dann ist zwar die None mit dabei, aber das kann ja den Klang nur nochmal interessanter machen. ich meine du erklärst es auch so in einem deiner anderen Bücher, mag aber sein dass ich mich da täusche. danke dir für eine Einschätzung, herzliche Grüße Friedrich
Lieber Friedrich, ich gebe dir recht, dass die hier gezeigten Griffe für den Major und für den Minor Chord nicht besonders bequem sind.
Erstens: tatsächlich sind es aber die Griffe, die allgemein gelehrt werden, alle akademischen Akkordeonist•innen greifen genauso, mit dem richtigen Fingersatz (auch den kleinen Finger verwenden) kann man sich durchaus an sie gewöhnen.
Zweitens aber: da geht es mir genauso wie dir, seit ich – als abtrünniger Jazzrock Keyboarder – zum ersten Mal das Akkordeon in der Hand hatte, bevorzuge ich die Griffe, die du beschreibst. in der geplanten (aktuell etwas verzögerten) nächsten Folge sollen diese Griffe gezeigt werden!