Das Duo Johannes Gräßer und Szilvia Csaranko harmoniert nicht nur auf der Bühne, sondern ist auch ein geniales Dozenten-Team. Zusammen haben die beiden bereits etliche Workshops und Konzerte gegeben. Aus dieser Tätigkeit entwickelte sich schließlich das Klezmerorchester Erfurt, ein in der Form in Deutschland einzigartiges Projekt, bestehend aus Laien, semiprofessionellen sowie professionellen Musikerinnen und Musikern. Csaranko arrangiert und schreibt die Noten, und spielt selbst das Piano. Gräßer übernimmt neben anderen Leitungsaufgaben das Live-Dirigat.
Text: Ramona Kozma; Fotos: Pierre Kamin, Holger Rudolph, Nils Brederl
Am 2. Oktober 2022 spielte das 80-köpfige Klezmerorchester Erfurt im Rahmen der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit ein großes Open-Air-Konzert auf dem Erfurter Domplatz. Das hätte sich Dave Tarras vermutlich nicht vorstellen können, als er vor rund 100 Jahren auf seiner Flucht aus der heutigen Ukraine in die USA – wo er später Klarinetten-Star wurde – für 14 Tage Halt in Erfurt machte.
Aber gehen wir der Reihe nach vor. Die Geschichte dieses besonderen Orchesters beginnt vor 14 Jahren mit der Begegnung der Musikerin Szilvia Csaranko (Akkordeon, Klavier) und dem Musiker Johannes Paul Gräßer (Geige). Sie lebt in Hannover, er in Erfurt. „Wir haben uns natürlich auf dem Yiddish Summer Weimar kennengelernt“, erzählt Csaranko beim Videointerview im September 2022 schmunzelnd, und spielt damit auf die große Bedeutung des Festivals für die Klezmerszene in Deutschland an. Das war im Jahr 2008 und Csaranko und Gräßer waren Teilnehmende im fortgeschrittenen Instrumentalkurs. 2009 gründeten sie dann ein Duo und entwickelten die Rumeynishe Fantasien, ein sich stets in der Weiterentwicklung befindendes Programm, in dem sie eine Verbindung von Klezmer und rumänischer Volksmusik mit Elementen und Techniken klassischer Kunstmusik schaffen.
Von der Jamsession zum Orchester
Auf die Frage, wie sie zur Idee kamen, ein Klezmerorchester zu gründen, antwortet Johannes Gräßer spontan: „Wir hatten nie die Idee, ein Klezmerorchester zu gründen!“ „Es hat sich quasi selbst gegründet“, ergänzt Csaranko. Entwickelt habe sich das Projekt aus der aktiven Folkszene in Erfurt, erklärt Gräßer. Zunächst habe es die Lange Nacht des Klezmer gegeben, bei der verschiedene Gruppen auftraten und abschließend eine gemeinsame Jamsession gaben – damals noch völlig ohne vorherige Probe. Gräßer habe dann vorgeschlagen, diesem Abschluss doch eine öffentliche Probe vorwegzustellen. So kamen das erste Mal etwa 15 Musikerinnen und Musiker zusammen und spielten ein geprobtes, musikalisches Finale der Klezmernacht. Aber auch ein Erlebnis in Bayern wurde ein wichtiger Auslöser. Csaranko und Gräßer waren hier mehrere Jahre als Workshopleiter aktiv. Zum Ende des Workshops wurde ein großer Tanzball veranstaltet. „Um die 80 Tänzer in Tracht tanzten da zu unserem Klezmerensemble“, erzählt Johannes Gräßer noch heute erstaunt. „Und das Ensemble bestand aus dreißig Leuten in Tracht! Das war irre“, ergänzt Csaranko. „Das war verrückt und ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich Bilder oder Fotos sehe. Aber am nächsten Tag schrieb eine Lokalzeitung: Bayerns größtes Klezmerensemble spielte auf!“ Da war Gräßers Ehrgeiz gepackt. „Das können wir auch in Erfurt, dachte ich, und fragte Szilvia, ob sie Lust hat, das einfach mal mit mir auszuprobieren.“
„Wir hatten nie die Idee, ein Klezmerorchester zu gründen!“
Gräßer
Ein neues Konzept entsteht
Die Idee wurde ein voller Erfolg: Anfangs waren es dreißig Anmeldungen, mittlerweile hat das Orchester achtzig Teilnehmende. Es handelt sich um ein Projektorchester, das also jedes Jahr neu gebildet wird. Schnell wurde klar, dass es ein besonderes Konzept und auch ein eigenes Konzertformat brauchte. „Wir haben es aus der Langen Nacht des Klezmer herausgenommen und es als eigenständiges Konzert mit vollständigem Programm konzipiert“, so Gräßer. Da viele Interessierte aus ganz Deutschland und nicht nur aus Erfurt beim Orchester mitmachen wollten, entwickelten Csaranko und Gräßer folgende Idee: „Es gibt Anfang des Jahres einen Einführungsworkshop. Zu dem müssen alle kommen, die mitspielen wollen. Dann üben die Teilnehmenden über mehrere Wochen zu Hause. Und dann gibt es ein langes Wochenende mit Endproben, Arrangements und dem Konzert. Das ist das Prinzip seit 2016.“ Einige Beteiligte seien von Anfang an dabei gewesen, aber es kämen immer wieder auch neue Musikerinnen und Musiker dazu. Möglich sei so ein großes Projekt auch nur durch die Mithilfe von Kolleginnen und Kollegen. Sie unterrichten die einzelnen Instrumentengruppen und unterstützen auch während der Aufführung durch ihr Mitspielen und die Übernahme von Solostellen.
Die Grundlage für die musikalischen Proben schafft Csaranko. Die studierte Kulturwissenschaftlerin, die seit ihrer frühesten Kindheit Klavier spielt und später auch zum Akkordeon kam, transkribiert anhand alter Aufnahmen – sofern vorhanden – die Stücke. Sie erstellt daraufhin mit Rücksicht auf die verschiedenen Bedürfnisse, Levels und Instrumente ein gezielt auf das Orchester abgestimmtes Notenmaterial. Denn besonders wichtig ist den beiden, dass wirklich jede und jeder mitmachen darf und kann, egal, welche Vorerfahrung sie oder er mitbringt.
Um dieses Ziel zu erreichen, wenden Csaranko und Gräßer bereits vielfach erprobte Methoden an: So werden die Noten nicht vorab zur Verfügung gestellt, vielmehr erarbeiten die Teilnehmenden sich die Stücke gemeinsam über das Gehör. Erst nach dem Einführungswochenende bekommen sie die Noten zur Nachbereitung. „Wir schmeißen alle zu Beginn erst einmal in den gleichen Topf“, so Gräßer. Semiprofis und Profis mit klassischem Background seien plötzlich gleichermaßen Einsteigende, „weil viele Dinge eben ganz und gar nicht so gemacht werden wie in der Klassik.“ Manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer seien zu Beginn auch mal überfordert. „Sie denken: Ich bin nicht gut genug. Ich kann das nicht“, sagt Gräßer. „Wir können ihnen das Gefühl nicht nehmen. Das müssen sie selbst schaffen, aber wir bieten ihnen dafür eine Plattform.“
„Die Teilnehmer bekommen von uns einen ganzen Werkzeugkasten“, so Csaranko. Sie schreibe zwar die Noten, aber diese bildeten nur eine Art Skizze. Es gehe immer auch um die Prinzipien, wie man Folkmusik eben spiele: Melodie, Liedsheet, Akkordsymbole. Die Teilnehmenden würden befähigt z. B. Akkordsymbole zu verstehen, und wüssten dann, welchen Ton sie dazu spielen können, damit er passt. Damit würden sie auch freier.
„Sie können dann spielen, was auf dem Blatt steht. Sie können sich aber auch selbst Stimmen ausdenken oder Stimmen vereinfachen, im Optimalfall in der passenden Stilistik“, erklärt Csaranko. Es gäbe bereits viele tolle Erfolgstorys von Menschen, die anfängliche Ängste überwunden und über ihren Schatten gesprungen seien, sagen die beiden freudig und stolz.
Der Gesamtklang ist entscheidend
„Diese Grundidee von Klezmer finde ich so schön, diesen Community-Gedanken: dass alle zusammenkommen und alle dasselbe Stück spielen, aber jeder halt ein ganz bisschen anders, jeder mit individuellem Ausdruck – aber trotzdem machen wir etwas zusammen.“ Csaranko
Das Konzert vom 2. Oktober, das per Livestream übertragen wurde und zum Nachhören noch im Netz steht, macht die „Philosophie des Orchesters“ deutlich: Alle Musikerinnen und Musiker stehen gemeinsam auf der Bühne. Es gibt keine „Stars“. Wer die Gesichter nicht kennt, wird die Profis von den Laien nicht unterscheiden können, wird nicht wissen, dass die Akkordeonistin Paula Sell von Shmaltz, der Schlagzeuger Class Sandbothe (u. a. Trillke Trio) oder die Klarinettistin Susi Evans (The London Klezmer Quartet) mit auf der Bühne stehen. Statt Einzelne in den Vordergrund zu rücken, geht es um den Gesamtklang. Csaranko beschreibt eine interessante Beobachtung: „Es hat sich herausgestellt, dass ab einer bestimmten Gruppengröße die Fehler total versanden – komplett. Es hört sich dann einfach nur noch sehr schön und beeindruckend an. Und ob jetzt der Einzelne vielleicht einen falschen Ton drin hat … Das geht völlig in der Masse unter.“ Einfluss auf den Gesamtklang nehmen die beiden auch durch die Positionierung im Raum und das Dirigierkonzept. Allein schon durch die strategische Platzierung einzelner Instrumentengruppen – je nach Lautstärke – lässt sich der Klangkörper positiv gestalten. „Ich würde z. B. nie mehr die Saxofone vorne auf ein Podest setzen“, erklärt Csaranko schmunzelnd. Johannes Gräßer gibt dann live den Einsatz für bestimmte Instrumentengruppen. Das macht das Konzert lebendig, denn alle Orchestermitglieder bleiben stets aufmerksam und gespannt darauf, was als Nächstes passiert.
Eine besondere Uraufführung
Nachdem aus Pandemiegründen zwei Jahre in Folge kein Konzert des Orchesters stattfinden konnte, gab es 2022 gleich zwei davon. Das eine indoor, das andere als Open Air mit Liveprojektion des Künstlerduos Kopffarben. Der Livestream vom Domplatz zeigt, dass das Orchester auch unter widrigen Bedingungen bestehen kann: Von Kälte und Regen ließen sich die Spielenden nicht ablenken – man sieht sogar nette Helferinnen und Helfer, die mit Regenschirmen auf die Bühne kamen, um besonders die Akkordeonistinnen und Akkordeonisten mit ihren empfindlichen Instrumenten zu schützen. Neben dem speziellen Anlass war aber auch das diesjährige Programm ein besonderes: Csaranko und Gräßer präsentierten hier mithilfe ihres Orchesters gleich 17 neu entdeckte Klezmerstücke aus der Sammlung Kiselgof-Makonovetsky (siehe Kasten). Szilvia Csaranko beteiligt sich bereits seit zwei Jahren aktiv und intensiv an der Aufbereitung des wiedergefundenen Materials. Sie hat selbst an die 800 Stücke durchgespielt, um die richtigen für das Orchesterprogramm herauszufischen. „Ich habe mir gleich gedacht: Wenn das Melodien sind, die seit über 100 Jahren nicht gespielt worden sind, das wäre doch irre, das mit einem 80-köpfigen Klezmerorchester wieder zum Klingen zu bringen! Viele der Stücke weisen die typischen Charakteristika jiddischer Musik auf, wie z. B. kleine Phrasen oder Endungen, aber trotzdem gibt es einen Anteil, der anders ist: neu und frisch“, erzählt die Musikerin schwärmend.
Mit der ebenso klezmerversierten Klarinettistin Susi Evans hat sie schon etliche dieser Stücke auf YouTube veröffentlicht. Auch auf ihrer aktuellen CD Klezmer Reawakened – New music from old manuscripts widmet sich das Duo dem Aufwecken der sich lange im Tiefschlaf befundenen Melodien.
„Es gibt nun hochauflösende Fotos von über 1400 Klezmermelodien. Und viele, viele – die meisten davon – kennen wir nicht von anderen Stellen. Es handelt sich also um neues Repertoire. Die Beregovsky-Sammlung hat 200 und ein paar Stücke. Das, was wir kennen, hat sich also mehr als verfünffacht! Das ist schon eine irre Sensation in der Jiddisch-/Klezmerwelt.“ Csaranko
Gräßer ergänzt, dass die Vielfalt der ausgewählten Stücke auch dazu beitrage, mit Klischees aufzuräumen. „Das ist eine kleine Nebenbaustelle von mir. Viele denken, Klezmer, das ist gleich die weinende Klarinette. Dabei ist es viel mehr als das. Diese Sammlung beinhaltet viele Stücke, die von Menschen, die sich nicht so intensiv mit der Thematik beschäftigen, nicht gleich als Klezmer identifiziert werden.“
Drei Melodien aus dem Projekt des vergangenen Jahres komplettieren das Programm. Es sind Stücke von Dave Tarras. Auch sie lassen aufhorchen, denn Tarras mischt Einflüsse wie Jazz oder Bolero mit Klezmer. Dass er selbst als Flüchtling aus der heutigen Ukraine über Deutschland in die USA auswanderte, nimmt Gräßer während des Konzerts als Anlass zu einem Appell: „Die Ursachen und Folgen für Flucht sind damals wie heute fast die gleichen. Deswegen finde ich es besonders heute extrem wichtig, dass wir alle hier offen sind und tolerant gegenüber allen Menschen, gleich welcher Herkunft, welchen Geschlechts, welcher Weltanschauung oder sexueller Orientierung. Dafür spielen wir heute Klezmermusik!“
Susi Evans und Szilvia Csaranko haben im Duo ihre jüngste CD aufgenommen, auf der bislang unbekannte Stücke der Kiselgof-Makonovetsky-Sammlung zu hören sind. (Foto: Nils Brederl)
Wenn Musik Menschen verbinden kann, dann ist dem Klezmerorchester Erfurt diesbezüglich wahrhaft eine Glanzleistung gelungen. Denn das Gemeinsame, das Verbindende – das ist es, was die Musikerinnen und Musiker auf der Bühne verkörpern, was sie ausstrahlen und was auch direkt auf das Publikum übergeht.
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