Vom Ausloten des digitalen Musikraums

Das neue Album der 17 Hippies

ao+

8. Januar 2023

Lesezeit: 4 Minute(n)

Zwar waren die 17 Hippies zweieinhalb Jahre nicht mehr auf Tour, aber sie haben die Zeit nutzen können, um ein recht komplexes Projekt umzusetzen, bei dem es um mehr als „nur“ ihr neues Album 9000 Nächte geht. Dazu muss man wissen, dass Komponist, Arrangeur und Musiker Christopher Blenkinsop, der sich hauptsächlich um die Musik der Band kümmert, zutiefst fasziniert ist von Aufnahmetechnik und dem Herstellen von binären Codes in Computern.

 

Text: Michael Freerix , Foto Andreas Riedel, Aufmacherfoto: Schmidt-Schliebener

Digital ist vieles möglich, nur wird es oft nicht gemacht. Und abenteuerlustig, wie Blenkinsop ist, wollte er tiefer in den digitalen Raum eindringen, die Klangmöglichkeiten digital vorführbarer Musik ausloten. Schon lange beschäftigte er sich mit der Idee, nicht nur ein Album, sondern eine Vielzahl von Alben in einem Projekt zu veröffentlichen. Wobei es im Werk der 17 Hippies drei „Streams“ gibt: einmal die von der Band eingespielten und arrangierten Stücke, zum Zweiten die in Kooperation mit anderen Musikern und Musikerinnen aufgenommenen Lieder und Alben und zum Dritten die Titel, die in Zusammenarbeit mit Produzenten wie Klaus Wagner oder Agaric parallel produziert wurden. Prototypisch dafür steht Metamorphosis, das 2016 als zweite Hälfte des Doppelalbums Anatomy erschien und auf dem viele musikalische Gäste mitwirkten.

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9000 Nächte sollte nun etwas wieder mehr in diese Richtung Gehendes werden, „eine Art Metamorphosis Teil zwei“, wie Blenkinsop es ausdrückt. Er fragte viele Musiker und Musikerinnen wegen Gastbeiträgen an, zunächst in der Hauptstadt, wo ja auch die Hippies beheimatet sind. Es hagelte Absagen. „In Berlin passiert immer alles auf so einer komischen Ebene, wo kein Risiko eingegangen wird“, kommentiert er. Daraufhin wandte er sich an Kolleginnen und Kollegen im Ausland, die sofort positiv reagierten. Und das passt vielleicht auch zum Resonanzraum der Band allgemein, deren Musik auf der ganzen Welt gehört wird, mit Schwerpunkten von Istanbul über Ankara bis in entlegene japanische Kleinstädte. Einzelne Titel der 17 Hippies haben mehr als eine Million Wiedergaben auf Spotify.

„Aber Spotify ist im Grunde nur eine sehr bequeme Schallplattenabspielanlage“, findet Blenkinsop. Digital ließe sich wesentlich mehr verwirklichen, und 9000 Nächte sollte dies reflektieren, als ein Album, das die Auslotung des digitalen Musikraums darstellt. Deshalb setzte sich der Musiker mit digitalen Entwicklern zusammen, um eine App zu kreieren, an der sich die Konzeption des neuen Albums orientieren sollte: als Kunstwerk, das viele verschiedene Möglichkeiten seiner selbst ist.

17 Hippies_Andreas Riedel

 

17 Hippies Foto: Andreas Riedel

Es ist die Möglichkeit, die Musik als etwas nicht Fertiges zu betrachten.

In einem ersten Schritt wurden die dafür gedachten Stücke regulär eingespielt, um diese in einem zweiten an Kollaborierende in der ganzen Welt zu verschicken, die dann eigene Versionen dieser Titel erstellten. Alles durfte verändert werden, nur eines nicht: die Länge der einzelnen Tracks. Denn diese sollten auf der entwickelten App parallel zu den Erstversionen laufen, sodass alle, die sie nutzen, sich mithilfe eines Buttons auf dem Display mit dem Finger zwischen diesen unterschiedlichen Einspielungen hin- und herbewegen können. Auf diese Weise lässt sich einmal mehr von der einen, einmal mehr von der anderen Fassung hören, man kann aber auch zwischen mehr Bläsern, mehr Geigen oder mehr Gesang wählen oder das Stück schneller oder langsamer abspielen, je nachdem, wohin man den Button auf dem Display schiebt. Blenkinsop erklärt dazu: „Es ist die Möglichkeit, die Musik als etwas nicht Fertiges zu betrachten.“ Sie lässt sich so im Grunde als etwas Nichtlineares, eher Rundes, Veränderbares begreifen. Wer es sich anhört, soll die Möglichkeit haben, seine eigene, – vorläufig – endgültige Version der Stücke selbst zu erstellen, im Augenblick des Hörens, seiner oder ihrer momentanen Stimmung entsprechend.

Die Aufnahmen, Kooperationen sowie die Entwicklung der App haben mehr als zwei Jahre in Anspruch genommen. Gelder mussten – über Stiftungen – akquiriert werden, denn allein durch Bandeinnahmen, die zudem gerade auch noch recht gering sind, wäre eine derartige Entwicklungsarbeit nicht zu finanzieren gewesen. Zeit stand aufgrund der Pandemie zwar zur Verfügung, denn die Tourneen 2020 und 2021 mussten abgesagt werden. Finanziell aber war dies problematisch für die Band, „denn wir leben vom Touren“, wie Blenkinsop ergänzt.

Für die Tourausfälle gab und gibt es viele verschiedene Gründe. Teilweise hängt es mit schwächelndem Vorverkauf zusammen, teilweise wollen die Veranstaltenden aufgrund der unklaren und wechselnden Corona-Auflagen kein Risiko mehr eingehen, gelegentlich liegt es aber auch einfach an den strukturellen Veränderungen der vergangenen zwei Jahre. Ihr Booker sei der Meinung, es sei „gerade nicht die Zeit für große Besetzungen“. Es hätte auch Veranstaltende gegeben, die die Band überreden wollten, nur zu sechst zu spielen. „Aber das machen wir nicht – entweder alle oder keiner“, so das Motto der 17 Hippies. Eine Tour für 2023 ist angesetzt – mit ersten Terminen schon Ende Dezember –, aber: „Sicher ist gerade nichts, und man weiß nicht, was noch kommt“, sagt Blenkinsop.

Es gibt auch bereits Vinylmixe des neuen Albums, aber es fehlt der Band derzeit an den finanziellen Mitteln, um Tonträger herstellen zu lassen. „Wir leben ja in einer Welt, in der es viel zu viel gibt, und hoffen, die Menschen zu neuen Ideen zu inspirieren.“ So jedenfalls sieht Christopher Blenkinsop das, was er mit den 17 Hippies macht. Vor allem aber lebt er in der Hoffnung, 9000 Nächte bald live vor Publikum präsentieren zu können. Und live gibt es die Musik der Hippies weiter ausschließlich linear, in großer Besetzung.

17hippies.de
 
Aktuelles Album:
9000 Nächte (Hipster Records, VÖ als App: 21.12.2022
 
Videos:
„Wach vor Liebe“: www.youtube.com/watch?v=C0cggPaTDIw
„Gold“: www.youtube.com/watch?v=I3ceo_f3O2A
„If The Wind Blew Me Away“: www.youtube.com/watch?v=5OOTjYPFH3Y
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