Wohltemperiertes Akkordeon (Teil 3)

Die Praxis des Stimmens

24. Februar 2024

Lesezeit: 8 Minute(n)

In dieser Arbeit werden zwei Akkordeons beschrieben, bei denen mindestens ein Chor wohltemperiert und ein anderer gleichstufig gestimmt ist. Eine Jury beurteilte den Klang der wohltemperierten Stimmung in Tonarten mit wenigen Vorzeichen schöner als den der gleichstufigen und fand die Tonarten mit vielen Vorzeichen gleichwertig in beiden Temperierungen. Die wohltemperierten Stimmungen ermöglichen authentischere alte Musik als die gleichstufigen.
Die zwei verschieden gestimmten Chöre zusammen ergeben einen Tremolo-Klang. Bei dem einen Akkordeon, Weltmeister Stella 60, kommt die Temperierung der Werckmeister-III-Stimmung nahe. Bei dieser Stimmung ist das Tremolo sehr unregelmäßig. Um diesen Nachteil zu beheben, wurde eine zweite wohltemperierte Stimmung kreiert und mit einem Victoria Paganini Akkordeon verwirklicht. Diese Temperierung zeigt bessere Tremoli und erlaubt das Zusammenspiel mit anderen gleichstufigen Instrumenten. Weitere mathematische Optimierungen ergeben wohltemperierte Stimmungen mit einem schönen, sehr flachen Tremolo, welche aber aus finanziellen Gründen nicht verwirklicht und demnach auch nicht getestet werden konnten. Ferner wurde eine Möglichkeit gefunden, bei einem Knopfakkordeon mit einem sowohl auf der Bass- wie auch auf der Diskant-Seite modifizierten M2-Anordnung das Akkordeon so zu stimmen, dass in allen Tonarten die perfekte natürliche Stimmung verwirklicht werden kann.
Die Umstimmung eines Akkordeons auf wohltemperierte Stimmung ist etwa anderthalb bis zweimal aufwändiger als eine normale Akkordeonstimmung.
Text: Zoltán Faragó und Simone Wiech

Es gibt keine Stimmung, die an und für sich besser ist als eine andere, es gibt
nur bestimmte Stimmungen, die einen bestimmten Zweck besser erfüllen können
als andere. (Klaus Lang, 1999, p. 9)

Der Autor Zoltán Faragó (* 1942) ist Diplomingenieur. Nach sieben Jahren Forschung in der Industrie und sieben Jahren wissenschaftliche Tätigkeit in der Kernforschung arbeitete er vierzig Jahre lang in der Raumfahrtforschung. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte war die Untersuchung der Einflüsse der Akustik von Raketenmotoren auf die Verbrennungsstabilität. Hier erwarb er Kenntnisse für akustische Messungen. Als Amateurmusiker hat er drei Jahrzehnte lang Orgel gespielt, unter anderem auf mehreren historischen Orgeln mit wohltemperierter und mit mitteltöniger Stimmung. Mit 77 Jahren fing er an Akkordeon zu spielen. Sein Wunsch ist, dass Barockmusik mit Akkordeon ähnlich schön klingt wie auf barocken Orgeln.

Die Autorin Simone Wiech (*1974) spielte schon in ihrer Kindheit verschiedene Musikinstrumente und interessierte sich gleichzeitig für handwerkliche Arbeiten an ihren Instrumenten. Als studierte Sozialpädagogin arbeitete sie mit autistischen Menschen und unterrichtete an einer Fachschule für Heilerziehungspflege, wo sie auch zum Leitungsteam gehörte. Nachdem sie 2011 ihre Leidenschaft für das Akkordeon entdeckt hatte, verwirklichte sie ab 2015 ihren Kindheitstraum, Musikinstrumente zu reparieren, und lernte in verschiedenen Werkstätten das Handwerk des Handzuginstrumentenbaus. Die Conzertina Werkstatt für Handzuginstrumente, gegründet am 1. Februar 2016, ist inzwischen bei Laien und Profis etabliert und entwickelt sich stetig weiter.

Disclaimer: Wenn das Geschlecht für einen bestimmten Zusammenhang ohne Bedeutung ist, verwenden die Autoren in einigen Fällen das generische Maskulinum in Plural für alle Geschlechter, um den Lesefluss nicht zu stören.

3 Die Praxis des Stimmens

Grundlagen des Stimmens

Das Stimmen ist unter allen Tätigkeiten in der Werkstatt für Handzuginstrumente die Königsdisziplin. Durch Feilen an der Spitze der Stimmzunge wird die Masseverteilung der Zunge nach hinten verlagert, dadurch schwingt die Zunge schneller, der Ton wird erhöht. Durch Kratzen am Zungenfuß nimmt der Querschnitt an dieser Stelle ab, dadurch schwingt sie langsamer, der Ton wird tiefer.

Gestimmt wird zuerst die mittlere Oktave von f´ bis e´´ im 8´-Chor (nach Stimmgerät, hier Dirk’s Accordion Tuner (siehe Literatur); oder a’ nach Stimmgabel, dann in Quinten/Quarten nach Gehör), anschließend alle anderen Töne oktavrein, orientiert an dieser ersten Oktave. Stimmgeräte oder – programme sind hilfreich, jedoch muss die abschließende Beurteilung immer über das Gehör erfolgen, da manche Phänomene von den Geräten nicht erfasst werden.

 

Abbildung 8

Die Victoria Paganini Akkordeons in der Werkstatt CONZERTINA, www.conzertina.de

 

Da jede Umgebungsveränderung die Tonhöhe minimal verändert, wird die Stimmung nur dann sehr genau, wenn die Tonhöhe im zusammengebauten Akkordeon und in Spielhaltung gemessen wird. Am Stimmtisch ist nur sehr grobes Vorstimmen möglich, am Stimmbalg treten im Vergleich zum zusammengebauten Instrument immer noch Abweichungen von bis zu 2 Cent auf. Das heißt, um eine sehr genaue Stimmung zu erreichen, werden alle Töne in allen Registern in zusammengebautem Zustand gemessen, die Abweichungen werden notiert; dann wird das Akkordeon geöffnet, nach den notierten Werten jede einzelne Zunge gestimmt, wieder zusammengebaut, angespielt, einige Stunden gewartet, bis das Material sich „beruhigt“ hat, dann wird der Vorgang wiederholt. In großen Instrumenten sind das bis zu 550 Zungen.

Akkordeons müssen in mehreren Durchgängen gestimmt werden. Durch die Bearbeitung des Zungenmaterials (meist eine Stahllegierung, seltener Messing- oder Kupferlegierungen) wird dieses in seinem kristallinen Aufbau verändert. Das Material hat die Tendenz, sich wieder in seine ursprüngliche Kristallstruktur zu fügen. Das dauert einige Stunden, wobei Bewegung hilfreich ist. Daher wird der Ton nach dem Stimmen mehrfach angespielt, und das Instrument muss nach jedem Stimmvorgang einige Stunden ruhen. Es erfolgen bis zu zehn Stimmdurchgänge, bis die Stimmzunge die Tonhöhe dauerhaft hält. Außer der Qualität, der Ausführung und dem Material der Stimmplatten und -zungen haben die Materialien des Instruments, dessen Konstruktion und die Verarbeitungsqualität Einfluss auf den Klang und die Stimmhaltigkeit.

 

Besonderheiten bei der Umstellung auf eine wohltemperierte Stimmung

Bei großen Veränderungen der Tonhöhe, wie es beim Umstimmen auf eine wohltemperierte Stimmung teilweise der Fall ist, wird der Vorgang bis zu 15-mal wiederholt; der Aufwand erhöht sich also um etwa das 1,5-fache.Da handelsübliche Stimmgeräte auf die gleichstufige Stimmung programmiert sind, muss beim Verwenden einer temperierten Stimmung jeder Ton einzeln berechnet werden, was ebenfalls einen Mehraufwand bedeutet.

Grenzen der Genauigkeit

Von der Qualität der Stimmplatten hängt u.a. ab, wie gut deren Stimmhaltigkeit ist. Es lassen sich nur Platten mit hoher Qualität sehr genau stimmen. Die Tonhöhe variiert mit der Lautstärke (siehe Abbildung 6), besonders bei tiefen Tönen. Das heißt, die Oktavreinheit ist nur bei einer bestimmten Lautstärke gewährleistet. Normalerweise wird in einer mittleren Lautstärke gestimmt. Kennt man die Spielgewohnheiten des Auftraggebers, so kann man sich beim Stimmen daran orientieren.

In den tieferen Lagen ist die Einschwingzeit der Zunge länger als in den höheren. Die Tonhöhe steigt hier um mehrere Cent an (Abbildung 7). Innerhalb des Einschwingzeitraums wäre also Oktavreinheit nur auf Kosten der Oktavreinheit des stabilen Tons möglich. Das bedeutet, dass eine korrekte Stimmung der tiefen Töne nur entweder für Staccato Spiel (auch Bellowshake) oder für länger gehaltene Töne möglich ist. Gestimmt wird üblicherweise nach der stabilen Tonhöhe (am Ende der Einschwingzeit), weil das Gehör bei lang gehaltenen Tönen oder Akkorden empfindlicher auf Abweichungen reagiert als bei schnellen Läufen. Die tiefen Töne (ab der kleinen Oktav) können aber auch minimal (0,5 bis 1,5 Cent) höher gestimmt werden, um dieses Phänomen auszugleichen.

Bedingt durch die Konstruktion der Stimmplatten (durchschlagende Zungen, die einseitig mit einem Niet befestigt sind) können Inharmonizitäten im Klangspektrum auftreten. Wenn der 1. Oberton zum Grundton nicht exakt im Verhältnis 2:1 steht, ist es nicht möglich, oktavrein zu stimmen (siehe Tabelle 2, Spalte V). Zudem tritt das Phänomen auf, dass beim gleichzeitigen Erklingen mehrerer Zungen ihre Teiltöne sich einander anpassen, wenn einige der Teiltöne voneinander minimal abweichen. Dieser Effekt ist umso stärker, je näher die Frequenzen der betroffenen Teiltöne zueinander liegen. Ein Beispiel hierzu ist in Tabelle 4 und in Abbildung 5 zu sehen: Der fünfte Teilton von c‘ (c’5) und der vierte Teilton von e‘ (e‘4) kommen sich ziemlich nahe. Bei der wohltemperierten Stimmung liegen sie näher zueinander als bei der gleichstufigen. Wenn die Töne von c‘ unde‘ gleichzeitig erklingen, schmelzen diese Teiltöne zusammen bei der wohltemperierten Stimmung, aber bleiben getrennt bei der gleichschwebenden. Die entsprechende Stelle ist in Abbildung 5 mit dem dicken Doppelpfeil gekennzeichnet. Die dünnen Doppelpfeile zeigen auf andere Stellen, bei denen viele Teiltöne der gleichschwebenden Stimmung zu wenigen bei der wohltemperierten zusammenschmelzen. In der Sprache der theoretischen Physik und der Informationstheorie ausgedrückt: Die Entropie des c‘-e‘-Zweiklanges ist kleiner in der wohltemperierten als in der gleichschwebenden Stimmung (siehe im Internet „Entropiebasiertes Stimmen von Musikinstrumenten“). Umgangssprachlich ausgedrückt: Die „Ordnung“ in den Teiltönen bei der wohltemperierten Stimmung ist größer als bei der gleichschwebenden. Dies der Grund, warum der C-Dur-Dreiklang schöner ist in der wohltemperierten als in der gleichschwebenden Temperierung.
Obiges Phänomen (dass beim gleichzeitigen Erklingen mehrerer Zungen ihre Teiltöne sich einander anpassen, wenn einige ihrer Teiltöne annähernd die gleiche Frequenz aufweisen) hat eine weitere Konsequenz: Wird die Tonhöhe einer Zunge korrigiert, kann sich die Höhe einer anderen geringfügig ändern. Wird diese korrigiert, kann sich die Höhe der zuvor korrigierten wieder ändern. Die Tonhöhe einer Zunge ändert sich, wenn diese in einem Mehrklang vorkommt, bei dem annähernd gleiche Teiltonfrequenzen auftreten. In Tabelle 4 sieht man, wie die Tonhöhen sich ändern, wenn sie solo oder im Zwei- oder Dreiklang gespielt werden. Hundertprozentig zufriedenstellendes Ergebnis ist nicht erreichbar.
Weitere Faktoren sind die begrenzten technischen Möglichkeiten – die Genauigkeit des Stimmgeräts bzw. -programms, die Qualität des Mikrofons etc.

Zusammenfassung Praxis des Stimmens:
Das Umstimmen eines Akkordeons auf eine wohltemperierte Stimmung erfordert mehr Aufwand. Je
höher die Qualität des Instruments, desto genauer lässt es sich stimmen und desto besser hält es die
Stimmung. Dennoch sind der Genauigkeit gewisse Grenzen gesetzt, was Interpretationsspielraum
ermöglicht und Entscheidungen erfordert. Für eine optimale Stimmung sind die handwerklichen
Fähigkeiten ebenso nötig wie das Wissen um die Grenzen des Machbaren – und der Respekt vor den Möglichkeiten und Charakteristiken jedes individuellen Instruments. Alle, die auf hohem Niveau Akkordeon stimmen, entwickeln mit den Jahren eine eigene „Handschrift des Stimmens“.

Stella 60

Abbildung 9

Vorgabe und gemessene Werte für die Stella Stimmung

 

Das obere Bild zeigt (ähnlich wie in Abbildung 4) die berechneten Werte für die Tonarten nach dem Quintenzirkel auf: bei x=1 ist der Grundton c, x=2 g, usw. Die Y-Achse zeigt an, um welchen Cent-Betrag die Durterz beziehungsweise die Quint von der natürlichen Stimmung abweicht. Bei Y=0 ist der entsprechende Zweiklang schwebungsfrei. Die unteren Bilder zeigen gemessene Werte für die Durterz bei den 8‘- und 16‘-Registern auf.
Im Anhang B befinden sich fünf ausführliche Tabellen über drei Messungen von Stella 60. Die erste Messung fand unmittelbar nach der Stimmung statt, die zweite 30 und die dritte 70 Tage danach.

Tabelle 5

Verstimmung nach 30 bzw. 70 Tagen.

 

Tabelle 5 zeigt den effektiven Mittelwert (RMS-Wert bzw. Mittelwert des Absolutwertes) der Verstimmung des wohltemperierten Registers nach 30 und 70 Tagen im Vergleich zu der Messung unmittelbar nach der Stimmung. Es ist bemerkenswert, dass die Verstimmung nach 30 Tagen etwas größer ist als nach 70 Tagen. Das bedeutet, daß in den letzten vierzig Tagen vor der letzten Messung eine kleine Änderung in Richtung Originalstimmung stattfand.
Die zweite wohltemperierte Stimmung wurde mit Victoria Paganini Akkordeons durchgeführt.
Da bei der ersten Stimmungsversion (Stella) ein zu scharfes Tremolo entstand, wenn beim gleichzeitigen Erklingen beider 8‘-Register der Unterschied in der Tonhöhe mehr als vier Cent betrug, wurde hier eine unregelmäßige Stimmung entworfen, um zu ermöglichen, dass ein Akkordeon mit dieser Temperierung in einem Ensemble mit gleichstufigen Instrumenten zusammen spielen kann. Die kleine Victoria wurde wohltemperiert (Abbildung 10), die große gleichstufig gestimmt.

Victoria Paganini

Abbildung 10

Vorgabe und gemessene Werte für die Victoria Stimmung

 

Das obere Bild stellt die berechneten Werte für die Tonarten nach dem Quintzirkel dar: bei x=1 ist der Grundton c, x=2 g, usw. Die Y-Achse zeigt an, um welchen Cent-Betrag die Durterz beziehungsweise die Quint von der natürlichen Stimmung abweicht. Bei Y=0 ist der entsprechende Zweiklang schwebungsfrei. Die mittlere Bild zeigt gemessene Werte für die Durterz bei den 8‘- und 16‘-Registern auf, während das untere Bild die Abweichung der temperierten Quint von der natürlichen Quint darstellt. Die gemessenen Werte zeigen bei jedem Chor und in jeder Oktave geringfügige Unterschiede, gemäß der in den Kapiteln 2 und 3 beschriebenen Sachverhalte.

Abbildung 11

Entwicklung der Tonhöhe mit der Zeit

 

In Abbildung 11 ist die zeitliche Entwicklung der Tonhöhe dargestellt. Bei tiefen Tönen beträgt die Einschwingzeit mehr als eine Sekunde, in dieser Zeit kann sich die Tonhöhe sogar bis 50 Cent ändern! Diese Messung bestätigt die in Abbildung 7 dargestellten Messergebnisse! In der mittleren Tonhöhe ist die Einschwingzeit deutlich kürzer. Bei dem Ton g (ca. 196 Hz) beträgt sie weniger als eine Sekunde, die Tonhöhe ändert sich dabei etwas weniger als 10 Cent. Nach der Einschwingphase treten Mikroschwankungen in der Tonhöhe auf, die bei einigen Zungen etwas stärker, bei anderen etwas schwächer ausfallen. Der Grund dieser Tonhöhenschwankungen ist unklar. Ein möglicher Grund liegt in der Interaktion der Schwingung der aktiven Zunge mit den vielen passiven Zungen, wie bereits dargestellt in Kapitel 2 (Schwebung zweier Töne). Hier stoßen die Autoren an die Grenze der Messgenauigkeit.

 

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