Wohltemperiertes Akkordeon (Teil 1)

Titel, Autoren, Kurzfassung, Motivation

22. Februar 2024

Lesezeit: 5 Minute(n)

In dieser Arbeit werden zwei Akkordeons beschrieben, bei denen mindestens ein Chor wohltemperiert und ein anderer gleichstufig gestimmt ist. Eine Jury beurteilte den Klang der wohltemperierten Stimmung in Tonarten mit wenigen Vorzeichen schöner als den der gleichstufigen und fand die Tonarten mit vielen Vorzeichen gleichwertig in beiden Temperierungen. Die wohltemperierten Stimmungen ermöglichen authentischere alte Musik als die gleichstufigen.
Die zwei verschieden gestimmten Chöre zusammen ergeben einen Tremolo-Klang. Bei dem einen Akkordeon, Weltmeister Stella 60, kommt die Temperierung der Werckmeister-III-Stimmung nahe. Bei dieser Stimmung ist das Tremolo sehr unregelmäßig. Um diesen Nachteil zu beheben, wurde eine zweite wohltemperierte Stimmung kreiert und mit einem Victoria Paganini Akkordeon verwirklicht. Diese Temperierung zeigt bessere Tremoli und erlaubt das Zusammenspiel mit anderen gleichstufigen Instrumenten. Weitere mathematische Optimierungen ergeben wohltemperierte Stimmungen mit einem schönen, sehr flachen Tremolo, welche aber aus finanziellen Gründen nicht verwirklicht und demnach auch nicht getestet werden konnten. Ferner wurde eine Möglichkeit gefunden, bei einem Knopfakkordeon mit einem sowohl auf der Bass- wie auch auf der Diskant-Seite modifizierten M2-Anordnung das Akkordeon so zu stimmen, dass in allen Tonarten die perfekte natürliche Stimmung verwirklicht werden kann.
Die Umstimmung eines Akkordeons auf wohltemperierte Stimmung ist etwa anderthalb bis zweimal aufwändiger als eine normale Akkordeonstimmung.
Text: Zoltán Faragó und Simone Wiech

Es gibt keine Stimmung, die an und für sich besser ist als eine andere, es gibt
nur bestimmte Stimmungen, die einen bestimmten Zweck besser erfüllen können
als andere. (Klaus Lang, 1999, p. 9)

Der Autor Zoltán Faragó (* 1942) ist Diplomingenieur. Nach sieben Jahren Forschung in der Industrie und sieben Jahren wissenschaftliche Tätigkeit in der Kernforschung arbeitete er vierzig Jahre lang in der Raumfahrtforschung. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte war die Untersuchung der Einflüsse der Akustik von Raketenmotoren auf die Verbrennungsstabilität. Hier erwarb er Kenntnisse für akustische Messungen. Als Amateurmusiker hat er drei Jahrzehnte lang Orgel gespielt, unter anderem auf mehreren historischen Orgeln mit wohltemperierter und mit mitteltöniger Stimmung. Mit 77 Jahren fing er an Akkordeon zu spielen. Sein Wunsch ist, dass Barockmusik mit Akkordeon ähnlich schön klingt wie auf barocken Orgeln.

Die Autorin Simone Wiech (*1974) spielte schon in ihrer Kindheit verschiedene Musikinstrumente und interessierte sich gleichzeitig für handwerkliche Arbeiten an ihren Instrumenten. Als studierte Sozialpädagogin arbeitete sie mit autistischen Menschen und unterrichtete an einer Fachschule für Heilerziehungspflege, wo sie auch zum Leitungsteam gehörte. Nachdem sie 2011 ihre Leidenschaft für das Akkordeon entdeckt hatte, verwirklichte sie ab 2015 ihren Kindheitstraum, Musikinstrumente zu reparieren, und lernte in verschiedenen Werkstätten das Handwerk des Handzuginstrumentenbaus. Die Conzertina Werkstatt für Handzuginstrumente, gegründet am 1. Februar 2016, ist inzwischen bei Laien und Profis etabliert und entwickelt sich stetig weiter.

Disclaimer: Wenn das Geschlecht für einen bestimmten Zusammenhang ohne Bedeutung ist, verwenden die Autoren in einigen Fällen das generische Maskulinum in Plural für alle Geschlechter, um den Lesefluss nicht zu stören.

1 Motivation
Die Frage, was Obertöne, Schwebungen und Temperierung miteinander verbindet, ist eine akademische. Die Frage, ob durch eine kleine Abweichung von der gleichstufigen Stimmung der Klang eines Akkordeons verbessert werden kann, hat einen größeren praktischen Bezug. Vorliegende Arbeit ist ein Versuch, auf beide Fragen eine Antwort zu finden.

Musikalische Stimmungen
Volkstümliche Musikinstrumente sind oft diatonisch. Ihre Temperatur ist die reine (Synonym natürliche) Stimmung. Das Längenverhältnis von zwei Saiten und das Frequenzverhältnis eines Tonintervalls ergibt reine Klangintervalle: 2/1=Oktave, 3/2=Quint, 4/3=Quart, 5/4=große Terz, 6/5=kleine Terz, 9/8=großer Ganzton, 10/9=kleiner Ganzton, 16/15=Halbton. Die Tonleiter besteht aus großen und kleinen Ganztönen und Halbtönen. Die Zweiklänge Oktave, Quint, Quart und Terz sind dabei schwebungsfrei, was die Stimmung sehr vereinfacht. Diatonische Instrumente der Antike waren hingegen pythagoreisch gestimmt. Die Zweiklänge Oktave, Quint und Quart sind auch hier schwebungsfrei, der Zweiklang Terz ist jedoch in der antiken Musik verpönt.

Erst um die erste Jahrtausendwende entwickelte sich die siebentönige Tonstufe durch die Halbtöne zum zwölfstufigen System. Die älteste Art, zwölfstufige Tasteninstrumente zu stimmen, ist die pythagoreische Stimmung. Erste Beschreibungen dieser Stimmung stammen von Boulliau (1373) und Henri Arnault de Zwolle (1450) mit der Bemerkung, dass diese Stimmungen schon länger gebräuchlich sind. Boulliau beschreibt eine Stimmung mit zehn reinen Quinten, de Zwolle mit elf. Die Mehrklänge Oktave, Quint und Quart sind dabei schwebungsfrei. Die Durterz der pythagoreischen Stimmung ist 21,51 Cent höher als die natürliche Terz. Da in der antiken Musik die Terz in der Harmonisierung nicht gebräuchlich war, war diese Unstimmigkeit nicht störend.

In der Musik der Renaissance erlangten Terzen und Dreiklänge eine große Bedeutung. Die mitteltönige Stimmung ermöglicht große und kleine Terzen, Dur- und Moll-Dreiklänge mit weniger Schwebungen als die pythagoreische. Die ersten Beschreibungen dieser Stimmung stammen vom spanischen Mathematiker Ramos de Pareja (1482) und dem italienischen Mönch Pietro Aron (1523), bei beiden mit dem Hinweis, dass solche Stimmungen schon länger in Gebrauch sind. Bei dieser Stimmung sind die Quinten so verengt, dass reine, oder zumindest schönere Terzklänge erreicht werden als bei der pythagoreischen. Dafür ist die zwölfte Quint übermäßig groß (Wolfsquint), was zu vier übermäßig großen Durterzen führt. Moderne Versionen der mitteltönigen Stimmung ermöglichen, dass alle Tonarten spielbar sind. In diesem Fall sind die Terzen nicht mehr so rein wie bei den Versionen des 14. bis 17. Jahrhunderts. Bei der Orgel sind moderne mitteltönige Stimmungen bis heute in Gebrauch.

Die erste wohltemperierte Stimmung wurde von Andreas Werckmeister (1645 – 1706) entwickelt. Hier sind nur einige wenige Quinten verengt, andere bleiben rein. Dadurch wird erreicht, dass häufig gespielte Tonarten der reinen Stimmung, während selten gespielte der pythagoreischen ähneln. Bei der wohltemperierten Stimmung klingt jede Tonart anders, wodurch die Tonarten einen eigenen Charakter bekommen.

Die pythagoreischen, mitteltönigen und wohltemperierten Stimmungen bilden je eine Stimmungsfamilie mit vielen Mitgliedern. Die Anzahl der dokumentierten Stimmungen beträgt mehrere hundert (Literatur: Stimmtabellen). Mit fortschreitender Zeit kommen die Stimmungen der gleichstufigen Stimmung (Synonym: gleichschwebend) immer näher. Bekannt war die gleichstufige Stimmung bereits im 16. Jahrhundert, konnte sich aber zuerst nicht durchsetzen, weil der damalige musikalische Geschmack schönere Durterzen bevorzugte, welche bei den häufig gespielten Tonarten mit wohltemperierten und mitteltönigen Stimmungen besser verwirklicht wurden.

„Georg Neidhardt (1685-1739) … stellte in verschiedenen Werken eine Reihe von Temperaturen, unter anderem die gleichschwebende, dar. Seine Stimmungen, mit Ausnahme der gleichstufig temperierten, genossen unter seinen Zeitgenossen eine sehr hohe Wertschätzung. 1706 erlaubte man Neidhardt, ein Register der neu erbauten Orgel der Jenaer Stadtkirche gleichstufig zu stimmen, und verglich diese Stimmung mit Johann Nikolaus Bachs unregelmäßiger Temperatur. Der Vergleich fiel in jeder Hinsicht zugunsten von Bachs Stimmung aus.“ (Klaus Lang, 1999, p. 98)

 

Durch Änderung des Geschmacks und der Hörgewohnheiten wird Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die gleichstufige Stimmung dominant.

Conclusio
Akkordeons werden ausschließlich gleichstufig gestimmt. Da aber mit Melodiebass-Akkordeons auch Klavierliteratur aus Renaissance, Barock, Klassik und Romantik spielbar ist, stellt sich die Frage, ob auch hier eine alte Temperatur gut oder sogar besser geeignet wäre als die gleichschwebende.
Welche Stimmung für eine Musik die beste ist, hängt von vielen Faktoren ab. Die drei wichtigsten davon sind: 1) Der Geschmack des jeweiligen Zuhörers, 2) das Instrument, auf dem die Musik erklingt, und 3) das Musikstück selbst. Tastenmusik von Girolamo Frescobaldi in mitteltöniger oder das Wohltemperierte Klavier von J. S. Bach in wohltemperierter Stimmung klingen nicht nur authentischer, sondern für viele Zuhörer auch schöner als in gleichschwebender – zumindest, wenn diese Musik auf Orgel, Cembalo oder Klavier vorgetragen wird. Stimmt das auch für Akkordeon? Hier fehlt jede Vergleichsmöglichkeit.
Diese Arbeit beinhaltet einige Klangbeispiele mit gleichstufiger und mit wohltemperierter Stimmung. Nach Anhören der Klangbeispiele kann man selber entscheiden, welche Stimmung einem besser gefällt.

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