Ein uraltes Prinzip

Sheng, Shō und Akkordeon

16. Dezember 2025

Lesezeit: 4 Minute(n)

Das Akkordeon gibt es seit etwa zwei Jahrhunderten. Das ungewöhnliche Prinzip der Klangerzeugung aber kennen Musiker durch die chinesische Sheng und die japanische Shō seit Jahrtausenden.

Text: Christina M. Bauer

Flirrend und reich an mitschwingenden Obertönen mäandern helle Einzeltöne, Harmonien und Melodieschnipsel durch den Raum. Die japanische Musikerin Michiko Ogawa spielt die traditionelle Shō bei der Münchner Konzertreihe Klang im Dach. Per Notebook, Software und Effekten ergänzt sie Field Recordings und von ihr aufgezeichnete Parts an Klavier, Orgel und Synthesizer, erweitert aber auch immer wieder das an der Shō live Gespielte durch Liveaufzeichnung und Live Processing. Die so entstehenden atmosphärischen, dichten Texturen geben einen Eindruck davon, wie mit einem sehr alten Musikinstrument eine ganz moderne Musik gespielt werden kann. Musikerin ist Ogawa, die in Tokio aufwuchs, lange in Freiburg und Berlin lebte und ihren Lebensmittelpunkt heute in den USA hat, schon seit Jahrzehnten. Sie hat Klarinette studiert. Mit der traditionellen Mundorgel ihrer Heimat aber beschäftigt sie sich erst seit fünf Jahren intensiver. Anfangs setzte sie sich noch vor allem mit der traditionell damit gespielten japanischen Gagaku Musik auseinander. Jetzt ist die Shō Teil ihres stilistisch modernen Repertoires „Pancake Moon“.

Ein versierter Akkordeonist oder eine Akkordeonistin könnte dem Handzuginstrument wohl ganz ähnliche Sphärenklänge entlocken wie sie Ogawa bei diesem Konzert spielt. Es kommt nicht von ungefähr, dass etwa die renommierte südkoreanische Komponistin Younghi Pagh-Paan für ihre Komposition „Ta-ryong V“ aus dem Jahr 1995 zwei mögliche Besetzungen angibt. Die erste: Zwei Klarinetten und Shō. Die zweite: Zwei Klarinetten und Akkordeon. Stefan Hussong, der an der Musikhochschule Würzburg eine Professur für Akkordeon und Kammermusik innehat, studierte selbst einst Akkordeon bei Hugo Noth und Joseph Macerollo, und Shō in Tokio bei Mayumi Miyata. Es war Miyata, die bereits ab den 1980er Jahren internationale Recitals mit der Shō gab und im Lauf ihrer Karriere Werke von Komponisten wie Tōru Takemitsu, John Cage and Helmut Lachenmann uraufführte. Sie und Hussong spielten auch zusammen Musik ein, eine unmittelbare Begegnung von Shō und Akkordeon.

Das sehr alte und das noch relativ junge Musikinstrument teilen dasselbe Klangerzeugungsprinzip. Meist haben 15 der 17 Bambusröhren der Shō einen Ton, zwei sind Dekoration. Der Ton entsteht jeweils durch eine am Boden angeklebte metallene Durchschlagzunge, die bei einströmender und ausströmender Luft frei in beide Richtungen schwingt. Genau so funktioniert es bei Akkordeon und Harmonika, nur wird die Luft über den Balg bewegt und der Gesamtaufbau mit zahlreichen Stimmzungen und Stimmplatten ist aufwendiger. Etwas anders funktioniert die Klangerzeugung beispielsweise bei der Klarinette: dort schlägt das durch die einströmende Luft bewegte Rohrblatt auf einen Rahmen auf und federt von dort gleich wieder in die Ausgangsrichtung. Daher ist hier die Rede von einer Aufschlagzunge.

Mayumi Miyata und Stefan Hussong

Foto: Toshio Hosokawa

Erscheint nun die Shō mit ihrer Ankunft in Japan im achten Jahrhundert bereits antik, kann die chinesische Mundorgel Sheng, von der sie abstammt, noch mehrere Jahrhunderte draufpacken. Ihre Entstehung wird auf mindestens 1100 Jahre vor dem Anfang unserer Zeitrechnung datiert. Sie wird heute von Musikern auch in modernen Besetzungen und jenseits traditioneller Repertoires gespielt. Einer der international bekanntesten Solisten ist der chinesische Musiker Wu Wei. Er hat bereits zahlreiche zeitgenössische Werke für Sheng und Orchester uraufgeführt, etwa „Šu“ von Unsuk Chin, Werke von Enjott Schneider, Toshio Hosokawa oder Jörg Widmann. Wei musiziert aber auch mit Jazzbigbands wie der NDR Bigband. Durch einige Erweiterungen wurden die ursprünglichen Möglichkeiten des Musikinstruments ergänzt. So bringt eine moderne Sheng die Töne der chromatischen Tonleiter mit, anders als die zunächst diatonische Form.

Christian Buschmann präsentierte in Berlin 1822 seine Handäoline. Diese brachte bereits die wesentlichen Merkmale der Handzuginstrumente Akkordeon, Bandoneon und Harmonika mit. Cyrill Demian ließ 1829 in Wien ein Patent anmelden. Der Rest ist Musikgeschichte. Inzwischen sind moderne Akkordeons in nahezu allen Kulturen, Ländern und Musikstilen verbreitet. Doch selbst wenn eine Künstlerin oder ein Künstler auf dem Akkordeon eine hochmoderne Musik spielt, schwingt durch die Art der Klangerzeugung bis heute ein jahrtausendealtes Prinzip mit.

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