Volodymyr Kurylenko

Mit dem Bajan zwischen den Welten

12. Januar 2023

Lesezeit: 13 Minute(n)

Bajan-​Konzert in den Niederlanden. Der Virtuose Volodymyr Kurylenko aus der Ukraine stimmt ungewohnte Klänge an. Die eindringliche, fast unheimliche Erzählkraft seiner Musik packt die Zuhörer und katapultiert sie in eine andere Welt. „Wir hörten einen langen gedämpften Ton, der schließlich von fünf anderen aufgenommen wurde. Wie eine erschrockene Frage, traurig und still. Dieser schnurgerade Ton setzte sich durch das ganze Stück fort, wie der Orgelpunkt in Bachs Musik“, berichtet ein Besucher. „In der kleinen hölzernen Kirche konnte man meinen, ein volles Orgelwerk zu vernehmen.“
Text: Ortrun Wagner Fotos: Archiv Volodymyr ­Kurylenko, Archiv Michel van der Maesen de ­Sombreff, Stichting Desna

Das war in Maastricht 2014, nur wenige Wochen nach dem tragischen Absturz der MH 17 auf dem Flug von Amsterdam nach Malaysia, bei dem am 17. Juli im Gebiet von Donezk/Ukraine alle 298 Passagiere, darunter 192 Niederländer, ums Leben kamen. Ihnen widmete Kurylenko das Eröffnungsstück des Konzerts, eine Elegie mit dem Titel Chemin Creusé des Maastrichter Komponisten Math Niel (www.youtube.com/watch?v=PV5986vYjU8). „Für Ihre Kameraden, die über meinem Land starben“, erklärte er, ehe er mit unbeschreiblicher Sensibilität das Unglück melodiös nachempfand, voller Nuancen, faszinierender Dynamik, mit beeindruckenden Crescendi und gedämpften Pianissimi. Im weiteren Programm folgten abwechslungsreich russische, ukrainische und bulgarische Kompositionen, auch eigene Werke und Arrangements des Künstlers. Die Atmosphäre schwankte von gedämpft bis unbeschwert und humorvoll, jedes Stück bot neue Überraschungen. Zum Schluss erklang auf Wunsch des Publikums noch einmal die Elegie.

Inspirierendes Zusammenspiel mit Rauf Berman (Violine) bei Volodymyr Kurylenkos ­Jubiläumskonzert 20 Jahre in den Niederlanden im Dezember 2015

Botschafter osteuropäischer Klänge

Volodymyr Kurylenko (1973) ist seit einigen Jahren ein bekannter Name in der internationalen Akkordeonszene. Es ist sein Verdienst, dass er dem Publikum im Westen die Musik vorstellt, die speziell für das russische Knopfakkordeon (Bajan) geschrieben wurde: Musik mit Einflüssen aus Folk und Klassik, manchmal aber auch mit mehr oder weniger ausgeprägtem Jazz-, Latin- oder Musette-​Charakter; Musik, die immer von der slawischen Seele durchdrungen ist. Kurylenko interpretiert diese Musik mit Gefühl und Virtuosität.

Die Liste seiner Europa-​Tourneen umfasst Konzerttermine u. a. in Deutschland, Belgien, der Schweiz, Frankreich und Portugal. Im Ausland spielt er mehr als dreimal so viel wie in seinem Heimatland – in den Niederlanden, wo er sich mit zahlreichen Freunden seiner Musik verbunden weiß, sogar vier- bis fünfmal so oft. Dass dieser ukrainische Bajanist ausgerechnet zweitausend Kilometer von seinem Zuhause entfernt in dem Land der Kanäle, der Tulpenfelder und der Windmühlen so viel Zuspruch erfährt, liegt wohl an seinem Werdegang.

Frühe Entscheidung

Volodymyr Kurylenko wurde am 15. März 1973 in der ukrainischen Kleinstadt Krolevets geboren, wo er heute noch lebt. Wie viele Jungen träumte er davon, später einmal Lokomotivführer zu werden. Doch ein musikalisches Schlüsselerlebnis lenkte ihn auf einen ganz anderen Lebensweg. Er erinnert sich: „Ich war neun Jahre alt, als es in unserem Kulturhaus ein Konzert gab. Auf der Bühne spielte ein Bajanist Lonely Harmonica von Vyacheslav Chernikov. Eigentlich war die Aufführung eines so komplizierten Werkes in unserem kleinen Ort eine aufsehenerregende Angelegenheit, das Stück ist anspruchsvoll und wirklich etwas Besonderes. Doch niemand im Saal nahm groß Notiz davon – nur ich! Es kam mir vor, als wäre diese Musik nur für mich allein gespielt worden, wie ein Fingerzeig Gottes! Auf der Stelle verliebte ich mich in das Bajan.“

„Musik bringt zum Ausdruck, was sich nicht in Worte fassen lässt und doch nicht still bleiben kann.“

Victor Hugo

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Der Neunjährige war auf das Musikinstrument seines Lebens getroffen, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Er ließ sich von seiner Cousine, die gerade seit einem Jahr Bajan lernte, die C-​Dur-​Tonleiter zeigen, und als er bald darauf in die Kindermusikschule kam, konnte er seinem Lehrer schon etwas vorspielen.
Nach sechs Jahren Unterricht bei Olexandr Bobryk und Victor Zinchenko wurde Kurylenko in die Musikhochschule Sumy und dort in die Klasse von von Genady Cherkashyn aufgenommen. 1991 gewann er den ersten Preis beim Regionalen Wettbewerb für Bajan und Akkordeon in Belgorod/Russland, 1992 den ersten Preis beim Wettbewerb für Interpretation auf folkloristischen Instrumenten in Bryansk/Russland, bei dem Friedrich Lips Jurypräsident war. Dort erhielt er einen Sonderpreis für das beste Arrangement eines nationalen Volkslieds. 1992 erhielt er sein Konservatoriums-​Diplom, danach trat er in das Pädagogische Institut in Sumy ein, sein Lehrer war der Bajanist Victor Rudyuk. Von 1993 bis 1997 studierte er am Konservatorium/der Musikhochschule Donezk bei Professor Vyacheslav Voyevodin.

Mit neun Jahren bekommt er sein erstes Instrument. Als Student beginnt er mit Straßenmusik in den Niederlanden.

Auf Tour

Bereits ab 1995 begann Kurylenko, in westeuropäische Länder zu reisen. Er spielte mit seinem Bajan auf internationalen Wettbewerben – u. a. in Portugal und Deutschland (Klingenthal) – bei Straßenkonzerten, später trat er auch zu verschiedenen anderen Anlässen auf. In Westeuropa, wo damals von Akkordeonmusik weithin noch eher banale Vorstellungen herrschten, erregte der Bajanist aus dem Osten besondere Aufmerksamkeit, hatten doch konzertreife Klänge aus einem Handzuginstrument noch Seltenheitswert.

Kurylenkos Repertoire ist breit gefächert. Das Knopfgriffakkordeon russischer Bauart kommt einerseits mit zahlreichen Registern, riesigem Tonumfang, warmem Timbre im Diskant und vollen, tiefen Bässen der Klangsprache einer Kirchenorgel erstaunlich nahe, andererseits ist es wendiger und variabel. Dies bietet dem Musiker den Weg in fast alle musikalischen Genres. Mit viel Gefühl und Virtuosität interpretiert er Werke der slawischen Bajan-​Literatur und Musik westlicher Klassik ebenso wie Jazz, Tango Nuevo, Klezmer oder Musette, auf Wunsch auch Latin oder Unterhaltsames.
In den Niederlanden brachten ihm seine Auftritte bald eine regelrechte Fangemeinde ein. Rückblickend erzählt er, wie alles begann: „Eines Tages, als ich in Maastricht mit meinem Bajan auf der Straße musizierte, bemerkte ich gegenüber einen Mann, der mich immerzu genau beobachtete. Dann bat er mich, doch abends für ihn in einem Restaurant zu spielen. Ich tat es, meine Musik kam bei den Leuten an und ich bekam daraufhin Anfragen für private Konzerte und öffentliche Auftritte. Der Mann war John Lambrichts, ein bekannter Fotograf. Wir freundeten uns an. Er besuchte mich zu Hause in der Ukraine, war mit in Klingenthal, machte Fotos und schrieb eine Reportage über Straßenmusiker in den Niederlanden.“
Zwanzig Jahre später, im Dezember 2015, konnten beide in Maastricht den glücklichen Beginn ihrer langjährigen musikalischen Freundschaft mit einem Jubiläumskonzert feiern (youtube.com/watch?v=ZPSpoTKtrLc). Lambrichts las zur Einführung aus seiner Reportage, die er mit Bayan und Mayonnaise betitelt hatte – als augenzwinkernde Reminiszenz an die kulinarische Vorliebe des Künstlers für die delikate Soße, deren süße Variante ihm bei seinem Aufenthalt in Deutschland 1997/98 ganz besonders lecker gemundet hatte. Aber die humorvoll servierte Reportage beleuchtet ernste Fakten. Auf der Suche nach der Welt hinter dem Musikanten auf der Straße skizziert Lambrichts die Situation des ukrainischen Bajanspielers Volodymyr Kurylenko, der immer wieder zwischen Ost und West pendelt, um auf der Straße Geld für sein Studium zu verdienen und mit der Teilnahme an Festivals und Wettbewerben versucht, der Ausweglosigkeit seiner Existenz zu entfliehen.

Künstlerdasein

Straßenmusiker, die aus dem ehemaligen Ostblock, aber auch von anderswo stammen, findet man überall, auch bei uns. Nicht selten sind es voll ausgebildete Musiker, die für Almosen ihre Kunst darbieten. Das wundert kaum jemanden in unserer materialistischen Gesellschaft. Man kennt ja seinen Äsop. Schon vor über 2 000 Jahren stellte der in seiner Fabel von der Heuschrecke und der Ameise Musiker als Faulenzer hin, was Jean de la Fontaine (1621–1695) mit seiner Fabel La Cigale et la Fourmi aufgriff, die heute an vielen Schulen zum Lehrplan gehört. Obwohl die Interpretation des Gleichnisses durchaus kritische Einwände evozieren sollte, bleibt ein schaler Geschmack beim Gedanken an Musik als Beruf.

Allgemein wird ein Musikstudium gern als „brotlose Kunst“ abgetan. Aber welcher junge kunstbegeisterte Musiker, zumal wenn ihm hervorragende Begabung bescheinigt wird, lässt sich davon abschrecken? Zum Studiumsende hin, nach bestandener Prüfung, erscheinen dann aber doch unweigerlich am Horizont solch unkünstlerische Fragen wie die nach der Sicherung des Lebensunterhaltes. Auch dem Musiker Kurylenko erschien die Alltagsrealität als Freiberufler, erst recht in der armen Ukraine, erschreckend düster. Er sah enorme finanzielle Schwierigkeiten auf sich und seine zukünftige Familie zukommen, und entschied sich deshalb für eine weitere Ausbildung als zweites Standbein. Er absolvierte an der staatlichen Universität für Völkerrecht in Kiew von 1998 bis 2001 ein Jura-​Studium, das er mit dem Master für Internationales Recht abschloss.
Aber in der Anwaltskanzlei drohte der engagierte Vollblutmusiker zu verkümmern. Die Arbeit als Jurist ödete ihn an und raubte ihm alle Lebenskraft: „Ich kam nicht mehr zum Bajan-​Spielen. Ohne zu musizieren wurde ich depressiv. Schließlich landete ich wieder mit meinem Bajan auf der Straße. Zum Glück hatte ich Freunde, die mir zu Auftritten, Konzerten und noch viel mehr verhalfen!“

Konzert zur Präsentation einer CD des Komponisten und Pianisten Roman Kolyada

Glücklich zurück

In Holland wurde Kurylenkos Rückkehr dankbar begrüßt, Zeitungen und Fernsehen bedachten ihn mit begeisterten Kritiken. Bald gehörte er zum festen Bestandteil der dortigen Akkordeon-​Szene. Beim Jazz Maastricht 2006, wo er als Entr’acte zwischen den Diven Tania Maria und Rita Reijs auftrat, galt er als eine der großen Überraschungen. Sein TV-​Auftritt bei ’vpro’s music laboratory of NL, Vrije Geluiden mit seiner Interpretation von Lonely Harmonica sorgte für große Resonanz (youtube.com/watch?v=FuNF3D2LYMA).

Kurylenko war Ehrengast beim Nationalen Akkordeonwettbewerb 2009 und bei der Wiedereröffnung des Theaters Carré. Er spielte in wechselnden Ensembles, bildete ein Duo mit dem Sänger und Geiger Rauf Berman (youtube.com/watch?v=a_Xo9AQg1M0). Gemeinsam traten sie auf, u. a. mit Jazzmusette, Piazzolla sowie russischen und italienischen Liedern. Er arbeitete mit dem begabten jungen Cellisten Rolando Fernandez Lara zusammen, einem Stammgast beim LSO (Limburg Symphony Orchestra). Die Sängerin Lilith Sarian, der Gitarrist Vladimir Kirasirov (youtube.com/watch?v=tFYejwOAEMg), die Violinistin Anna Janssen und die Domra- und Mandolinen-​Spielerin Evgenia Markova zählt er zu seinen musikalischen Freunden (http://volod.com.ua/concerts.php).

Stichting Desna

Einen entscheidenden Schub für seine künstlerische Entfaltung erfuhr Kurylenko durch die Aktivitäten der Desna-​Stiftung (Stichting Desna). Die 2005 gegründete Foundation war das Ergebnis des gewachsenen Interesses ihrer Mitglieder an der osteuropäischen Kultur durch die Begegnung mit dem ukrainischen Bajan-​Spieler, der regelmäßig die Niederlande besuchte und mit seinen Konzerten das musikalische Spektrum mit den feinen Klängen osteuropäischer Bajan-​Literatur bereicherte. Der Name der Organisation bezieht sich auf das idyllische Flüsschen Desna in der Gegend von Sumy, wo Volodymyr Kurylenkos Heimatort Krolevets liegt.

Wie es zu der bemerkenswerten Stiftung zur Unterstützung des Bajanisten kam, erzählt der Zweite Vorsitzende der Stiftung und Konzert-​Koordinator Michel van der Maesen de Sombreff: „Als während Kurylenkos Auftritten in Holland regelmäßig die Tasten seines Bajans hängen blieben oder gar nicht mehr funktionierten und jedesmal hinter dem Vorhang eine improvisierte Reparatur stattfinden musste, haben wir Freunde uns mal hinter den Ohren gekratzt. Sein Instrument, eine MIR, für das seine Mutter, als er jung war, zehn Jahre lang gespart hatte, war undicht und verschlissen. Nach dem Konservatorium (Donezk) hatte es viele Böen, Windstöße und Temperaturwechsel überlebt, auf Plätzen, in malerischen Gassen und sogar in der Berliner Metro. Sein Klang war unendlich melodiös und von einer unvergleichlichen Intimität. Immer spielte er seine beliebten russisch-​ukrainischen Komponisten, nicht einfach so etwas Populär-​Klassisches!
Das Konzertpublikum konnten wir aber doch nicht bei jeder ‚Panne‘ einfach warten lassen, bis das Instrument notdürftig repariert war, wenn überhaupt! Wir beschlossen, eine Stiftung ins Leben zu rufen, damit ein neues ‚Ding‘ gekauft und dem Künstler zu Verfügung gestellt werden konnte: die Stichting Desna (www.stichtingdesna.org). Nach knapp drei Jahren mit Spendenaktionen, immer im Zusammenhang mit von uns organisierten kleineren und größeren Konzerten, war die Stiftung so weit, dass ein neues Instrument bestellt werden konnte, und zwar in Moskau beim Jupiter-​Atelier, wo der alte Meister Arapov noch eigenhändig für die Stimmzungen zuständig war. Volodymyr fuhr selbst hin, um vor Ort seine Wünsche zum Bau des Bajans mit den Fachleuten zu besprechen. 2009 konnte das Instrument abgeholt und gleichzeitig bezahlt werden: ein brüllender Löwe, inbrünstig, aber auch mit unerwartet milden Zügen! Für letzteres hatte Volodymyr dann auch plädiert, und mit den Jahren entwickelte sich der gesamte Klang zum Optimum.“

Mit dem Kauf des neuen Bajans (ausgeliehen an Kurylenko) hatte die Desna ihr erstes Ziel erreicht. Sie lud ihn in den Folgejahren weiterhin zu Konzerten ein, fungierte als Informationskanal und konzentrierte sich im Übrigen auf die Förderung von Kurylenkos soziokulturellen Aktivitäten.

Das Volksensemble Bereginia und die Kinder der Seniorengruppe (2016)

Schatzmeister des kulturellen Erbes

Neben seinen Auftritten im Westen engagiert sich der Ukrainer in seiner Heimat seit Jahren mit speziellen Projekten für den Erhalt und die Entwicklung des kulturellens Erbes, insbesondere das der authentischen Bajan-​Kultur und die Bewahrung des alt-​überlieferten Liedschatzes in seiner Heimatregion. Dafür wurde er von der Provinz Sumy mit einer Auszeichnung geehrt.

Der Landstrich am Flüsschen Desna, in dem er geboren wurde und heute noch wohnt, ist für ihn das schönste Fleckchen Erde auf der Welt. Mit seiner Website (www.krolevets.com) stellt er das Leben in seiner Stadt und Umgebung vor. Auf www.volod.com.ua/folk beschreibt er, wie er den alten Liedschatz seiner Heimat, wie z. B. Oh, du bist der Mond und ich ein heller Stern (https://youtu.be/ZoFtbDsoSx4), vor dem Vergessenwerden bewahrt: durch Aufnahmen, Einspielungen von CDs, aber auch durch Berichte und Videos über die eigens von ihm initiierten Auftritte und Veranstaltungen eines authentischen Laienchors betagter Frauen aus seinem Nachbardorf. Für ihn kein kommerzielles Projekt, sondern Ausdruck seiner Liebe zur Ukraine. „Ich liebe die einfachen Menschen, die mein Land bevölkern“, sagt er, „und ich möchte die singende Seele meiner Landsleute in der Geschichte erhalten. Große Worte, aber das ist es, was ich fühle.“
Anders als die singenden Babuschkas in den Dörfern, die noch die uralten tradierten Lieder kennen, interessieren sich jüngere Leute mehr für Fernseh-​Glitzershows und Playback-​Festivals. Die Jugend weiß es nicht besser, seit „Kultur“ nicht mehr staatlich gefördert zum Leben gehört. Anlass für Kurylenkos Projekt Bajan in jeder Ecke der Ukraine! In Eigeninitiative organisiert und spielt er Konzerte, wo immer möglich, meist mit musikalischen Freunden, aber auch solo, für Jung und Alt, Arm und Etwas-​weniger-​arm, in Kulturhäusern, Schulen, Pflegeheimen, Firmen, Kindergärten. Überall stellt er das Bajan-​Repertoire in seiner ganzen Vielfalt vor. Verdienen kann er dabei nichts, aber er glaubt an seine Mission, und er hat Freude daran. Mit Herz, Hand und Verstand lebt er für die Musik und beweist dabei einen hohen Grad an Menschlichkeit.
Befragt zu seiner Motivation antwortet er: „Nun, Musik ist mein Leben. So einfach ist das. Ich möchte immer wieder spielen, für Menschen, meine Gefühle mitteilen, neue und unbekannte Musik vorstellen, bei allen nur möglichen Gelegenheiten, solange ich gesund bin.“ Dabei kommt es ihm nicht drauf an, wie viele Zuhörer ihn erwarten. „Ganz gleich, ob ich vor zwei oder vor tausend Leuten spiele, ich bin immer nervös und aufgeregt“, sagt er, und er fügt hinzu: „Ich spiele für jedes Publikum, besonders für Kinder, denn das Bajan trifft in die Seele wie ein Pfeil. Ich glaube, es ist das seelenvollste Instrument überhaupt und steht auf einer Ebene mit der Violine und einem Symphonieorchester.“

Auftritt und Interview in der Sendung Vrije Geluiden des holländischen Fernsehens im Oktober 2006 mit seinem MIR Bajan

Für Herz und Seele

Sein persönliches musikalisches Interesse reicht weit. Er hört am liebsten Rachmaninov mit seinem endlosen Ozean von Themen, seinen Harmonien, den Farben und der Tiefe der Musik, aber auch Piazzolla, Vivaldi, Schostakowitsch, Mahler und viele mehr mit ihren unterschiedlichsten Stücken. Was er dagegen verabscheut, ist „Ultra-​Modernes aus zusammengewürfelten Geräuschen“.

Als Lieblingskomponisten für Bajan nennt er u. a. Podgorny, Vlasov, Chernikov, Shenderyov, Derbenko, Myaskov und Zolotaryov. „Ihre Werke, die sie speziell für unser besonderes Instrument schrieben, klingen mit Bajan einfach gut“, meint er, „und das macht unser Instrument so einzigartig, nicht wahr?“ (https://youtu.be/88SYaPCF-​g4).
Wenn er selbst spielt, dann bevorzugt er Kompositionen für Bajan, aber auch hier unterstreicht er: „Da muss noch Musik drin sein – Musik, die Herz und Seele berührt.“
Dabei schöpft er aus dem gewachsenen Schatz ukrainischer Musik, deren Existenz er als seit jeher bedroht empfindet: „Die ukrainische Musik überlebte das Zarenreich und dann das Sowjetregime, in Form von Volksliedern und in Form von kreativen Aktivitäten engagierter Komponisten. Schöne Musik, ernste Musik – alles ist vorhanden, wurde aber stets unterdrückt. Die ganze Zeit. Es gibt viele Komponisten, die von einem westlichen Publikum noch entdeckt werden müssen, wie Kosenko, Revutsky, Lysenko und viele, viele andere, auch im Bereich Akkordeon/Bajan. Viele Musiker, einschließlich westlicher Akkordeonisten, spielen große Namen wie Semyonov, Derbenko usw. Es gibt aber noch mehr gute ukrainische Komponisten für Bajan, moderne wie Runchak, Stashevsky, Vlasov, auch Podgorny, Myaskov, Biloshytsky und andere, die uns ein Erbe wunderbarer Musik hinterlassen haben.“
Einen Überblick über sein Repertoire gibt Kurylenko auf seiner Homepage (http://volod.com.ua/repertoire.php). Vieles davon hat er auf CDs eingespielt (http://volod.com.ua/cds.php). Aufnahmen finden sich auf YouTube und auf seiner Homepage (http://volod.com.ua/video.php).

Komponist und Verleger

Kaum vorstellbar, dass der Allround-​Musiker nicht auch selbst „zur Feder greift“. Die Noten seiner Werke findet man u. a. auf der Website seines Verlages (http://volod.com.ua/music). Gemeinsam mit befreundeten Bajan-/Akkordeon-​Spielern und -Lehrern wie z. B. Borys Myronchuk, Roman Dotsenko und Artem Nyzhnyk bietet er hier für Kunden in aller Welt eine riesige Auswahl internationaler und speziell osteuropäischer Bajan- und Akkordeon-​Literatur inklusive Lehrwerken, Bearbeitungen von Klassikern sowie Neudrucken vergriffener Stücke. Die Künstler nehmen auch Aufträge für freie Kompositionen an, für Musik zu Filmen oder Dokumentationen, für Solo-, Ensemble- oder Orchester-​Arrangements sowie für Transkriptionen (bayan.ukraine@gmail.com).

Zuversichtlich

Für sein geliebtes Bajan sieht Volodymyr Kurylenko eine prosperierende Zukunft: „In den kommenden zwanzig, fünfzig, hundert Jahren wird sich unser Instrument stets weiterentwickeln. Dank großartiger Interpreten aus aller Welt findet es zunehmend Aufnahme in die Welt der klassischen Instrumente. Es ist auf dem Weg vom Folk-​Instrument zu einem weithin akzeptierten professionellen klassischen Instrument. Es ist ein einzigartiges Musikinstrument mit fantastischen Fähigkeiten. Ich bin sicher: Wenn Bach jetzt noch leben würde, würde er hauptsächlich für Bajan komponieren! Das Bajan-​Instrument vereint die Möglichkeiten von Orgel, Violine und Symphonieorchester. Schon jetzt beobachten wir, dass immer mehr moderne Komponisten, die früher nichts mit dem Akkordeon zu tun hatten, es jetzt studieren und Stücke dafür schreiben. Mein Wunsch ist: Bitte schreibt Musik, nicht nur Töne!“

Natürlich möchte Volodymyr Kurylenko so bald wie möglich wieder ganz normale Konzerte geben, unbeschwert und frei. Er bleibt zuversichtlich: „Wenn es so weit ist, will ich wieder durch Europa reisen und Konzerte geben für all die Menschen, die mich und meine Familie unterstützt haben in diesen dunklen Zeiten.“ Freuen wir uns darauf!

Musizieren für Kinder: Im Kindergarten No. 7 seines Heimatortes lauschen alle gebannt Volodymyr Kurylenkos Vorspiel von Tschaikowskys Kinderalbum.

Kirchenkonzert, Maastricht 2015: Vladimir Kirasirov (Gitarre), Evgenia Markova (Domra), Rolando Fernandez Lara (Cello) und Volodymyr Kurylenko (Bajan) spielen von Artem Nyzhnyk die Partita Nr. 2 Mactoub für Bayan/Akkordeon solo, Part III, Transkription für Ensemble von Volodymyr Kurylenko.

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Musik – die Sprache der Welt

Überall, wo er auftritt, lässt Volodymyr Kurylenko die völkerverbindende Kraft der Musik unmittelbar spürbar werden. So berichten Markus und Sandra Fink vom Duo Finkpositiv+ und vom Verlag Ame Lyss aus der Schweiz:

„Wir konnten Volodymyr Kurylenko 2015 und 2018 in der Schweiz willkommen heißen. Wir erlebten ihn als umgänglichen, bescheidenen, immer dankbaren Künstler ohne Starallüren. Er spielt technisch brillant und mit vielen Emotionen. Mit ihm zusammen spielen zu können war für uns eine große Bereicherung und Ehre, sowohl in musikalischer wie auch menschlicher Hinsicht.

Tour 2015: Auf Einladung des Fördervereins Akkordeon 100er-​Klub (wir waren etliche Jahre im Vorstand, konnten 160 Konzerte mit internationalen Künstlern aus Ost und West organisieren) spielte Volodymyr zwei Galakonzerte am Akkordeon-​Festival in Ste-​Croix. Das Publikum war begeistert von seiner Feinfühligkeit und seinem technischen Können. So lernten wir uns kennen und blieben in Kontakt.

Tour 2018: Nachdem wir den Förderverein 2017 auflösten, luden wir Volodymyr privat ein und organisierten vier Konzerte. Er bestand darauf, dass wir zu dritt auch einen Konzertteil bestreiten. Gesagt, getan. Eine Probe, man verstand sich sofort auf allen Ebenen. So wurden die Konzerte ein wunderbares Erlebnis für Zuschauer und Musiker. Volodymyr wohnte bei uns, sein Freund und Benelux-​Organisator Michel kam auch noch für ein paar Tage dazu. Alles problemlos – so geht Völkerverständigung (https://www.youtube.com/watch?v=PRPGZ4yDVnI)!

Die Pandemie brachte einen massiven Einbruch in Volodymyrs Konzerttätigkeit, bis hin zum Stillstand. Das Geld geht langsam aus und der Krieg bringt nur Negatives. Volodymyr ist emotional zu aufgewühlt, um dem Bajan die Musik zu entlocken, die seine Welt ist. Die Sorge um seine Familie – genug Essen, genug Wärme, die vielen Raketen – ist riesig. Wir unterstützen ihn, wo wir können. Sobald der Krieg vorüber ist, planen wir weitere Konzerte in der Schweiz.“ (Sandra und Markus Fink, 11. 10. 2022, www.ame-​lyss.ch)

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