Margit Kern

Die Akkordeonistin Margit Kern über das Akkordeon und ihre Arbeit als Interpretin für Neue Musik

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17. April 2023

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Lesezeit: 15 Minute(n)

Text, Interview und Fotos: Norbert Balzer
„Die Liebe zur Musik muss eine ganz starke Motivation sein“

Margit Kern (*1967) studierte Akkordeon bei Hugo Noth an der Hochschule für Musik Trossingen und bei Matti Rantanen an der Sibelius-​Akademie Helsinki. Sie startete ihre internationale Karriere als Akkordeonistin mit dem Gewinn des 1. Preises des Gaudeamus Wettbewerbes für Interpretation von Neuer Musik und konzertiert international, auch in den USA, in Kanada, China und Südkorea mit zahlreichen Uraufführungen. Festivals wie ZAMUS Köln, Forum Neue Musik DLF, Movimentos Wolfsburg oder Ultraschall Berlin laden sie ein, viele ihrer Projekte initiiert sie selbst von der Idee bis zur Verwirklichung. Die Künstlerin arbeitet seit vielen Jahren im Spannungsfeld von Alter und Neuer Musik zusammen mit der international führenden Schalmei-​Spezialistin Katharina Bäuml. Mit ihr gemeinsam gründete sie das in diesem Bereich wegweisende Ensemble Mixtura. Drei Solo-​CDs, vier weitere mit Ensemble Mixtura und darüber hinaus mit anderen Künstlern entstanden allesamt als Rundfunkproduktionen mit Radio Bremen, RBB, Deutschlandfunk und BR. Weitere enge Zusammenarbeiten pflegt sie mit dem Schlagzeuger Olaf Tzschoppe im gemeinsam gegründeten Ensemble Etendis. Mit Axel Porath, einem der führenden Bratschisten für Neue Musik in Deutschland, verbindet sie ebenfalls eine langjährige Zusammenarbeit. Margit Kern lehrt als Honorarprofessorin an der Hochschule für Künste Bremen im Fachbereich Musik. Über ihre Arbeit sprach sie mit Norbert Balzer.

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Balzer: Frau Professorin Kern, Sie sind seit vielen Jahren eine anerkannte Interpretin auf dem Akkordeon. Ihre erste Solo-​CD veröffentlichten Sie 2005 unter dem Titel Heart. Da war der Name wohl Programm, was vermuten lässt, dass das Akkordeon Ihnen besonders am Herzen liegt.

Kern: Ja, der Name war Programm. Der Titel wurde mit einem großen A in der Mitte geschrieben, also HeArt. Das waren Stücke, die sich um „Art“ und das Herz-​Thema rankten, die ich sehr gerne gespielt habe und die mir mit der Zeit quasi zugewachsen sind – also eine CD mit „Herzensangelegenheiten“, wenn man so will.

Da liegt doch die Frage nahe: Wie sind Sie zum Akkordeon gekommen? Waren Sie durch Ihr Elternhaus musikalisch vorgeprägt? Die Akkordeonistin Ksenija Sidorova erzählte z. B., dass sie durch ihre Großmutter zum Akkordeonspiel animiert wurde. Wie war das bei Ihnen?

Also bei mir war das so, dass meine ganze Familie Akkordeon spielte. Weil mein Vater Akkordeon spielte, war das Akkordeon sozusagen „Familieninstrument“, denn ich bin die Dritte von drei Geschwistern. Meine ältere Schwester spielte, mein Bruder auch, und da wollte ich natürlich auch gern mitspielen. Ich habe dann mit acht Jahren Unterricht bekommen und hatte eine sehr nette Lehrerin, Frau Kirschner in Darmstadt. Sie hat mir im Grunde die Welt der Musik geöffnet, in einer ganz starken, emotionalen Weise. Ich war bei ihr bis zu meinem Studienbeginn.

Sie spielen ein Akkordeon mit dem Schriftzug „Pigini-​Saam“. Es sieht aus wie eine Gola mit vorgelagertem Manual III, aber das Verdeck scheint von einer Pigini zu sein. Was hat es damit auf sich?

Ja, das ist durch und durch eine Pigini. Der ganze Korpus, auch das gesamte Innenleben, die Mechanik usw. sind von Pigini. Das Besondere an Pigini-​Saam ist, dass das Innenleben von Hartmut Saam bearbeitet wurde, d. h., die Stimmzungen sind mit dem Stimmstock fest verschraubt, ähnlich wie bei einem Harmonium. Dort ist es schon lange das Mittel der Wahl, um die Stimmung stabil zu halten. Während im Akkordeonbau die Stimmplatten mit Wachs befestigt werden, hat bei diesem Instrument jede Stimmplatte eine feste Verbindung mit dem Stimmstock.

Margit Kern

Warum spielen Sie eigentlich keinen Konverter?

Das liegt daran, dass ich als Kind ein größeres Instrument bekommen habe, das Instrument meines Bruders. Das war fast ein Konzertakkordeon, und das hatte ein vorgelagertes Manual. Heute ist der Konverter das Instrument der Wahl. Aber als ich studierte und meine professionelle Karriere begann, war der Konverter mechanisch noch nicht so ausgereift. Und ich muss sagen, ich fühle mich mit dem vorgelagerten Manual sehr wohl und war deshalb auch nie gezwungen umzulernen. Der Korpus ist auch extra von Pigini für das vorgelagerte Manual gebaut worden.

Seit 1998 unterrichten Sie an der Hochschule für Künste in Bremen. Wie viel Studierende haben Sie zurzeit und welche Schwerpunkte setzen Sie in der Ausbildung Ihrer Studierenden?

Aktuell habe ich fünf Studierende und mein Schwerpunkt liegt natürlich zuerst in der guten Ausbildung am Instrument, in der Beherrschung des Akkordeons. Das bedeutet, dass die anatomischen und koordinativen Aufgaben so gut beherrscht werden, dass man sein ganzes Leben lang Akkordeon spielen kann. Es ist ganz wichtig, dass man sozusagen eine „gesunde“ Technik erlernt, das Instrument zu spielen. Sie muss körpergerecht sein. Dafür habe ich mir ein System gebaut, wie ich das lehre und welche Musik ich dazu nutze. Dabei spielen Transkriptionen eine große Rolle – auch selbstverständlich Neue Musik, weil ich der Meinung bin, dass es für junge Akkordeonistinnen und Akkordeonisten ganz wichtig ist, sich mit der Originalmusik für ihr Instrument auseinanderzusetzen. Unser Instrument ist ja noch sehr jung – erst seit etwa 50 Jahren gibt es Originalmusik für das Akkordeon –, und da ist es sehr wichtig, sich mit den Stilen auszukennen und sich z. B. auch mit den rhythmischen Herausforderungen dieser Musik zu beschäftigen.

Wenn wir über die Musik sprechen, die auf dem Akkordeon gespielt wird, hat sich im Zuge der Hochschulausbildung im Fach Akkordeon in den letzten Jahrzehnten viel getan. Was hat sich da geändert?

Ja, da hat sich sehr viel getan. Wenn man mal von der Literaturentwickung ausgeht, hat man in den Achtzigerjahren noch jedes neue Stück begrüßt und war ganz nahe an diesem Aufbruch. Seitdem sind 40 Jahre vergangen, und in dieser Zeit habe ich natürlich alles, was an Neuer Musik, an Aufbruch in der Luft lag, auch selbst miterlebt. Ich habe für mich entschieden, weiter an den kulturell-​gesellschaftlichen Entwicklungen dranzubleiben und da meinen Schwerpunkt zu setzen. Für mich sind viele Stücke entstanden in den verschiedenen Besetzungen, in denen ich konzertiere. Ich spiele immer wieder Solo-​Programme, seit zwölf Jahren spiele ich sehr viel Kammermusik; im Grunde ist es heute die Herausforderung, in dieser Vielfalt als Musikerin eine künstlerische Linie zu finden.

Wie sieht es aus mit dem klassischen Genre, hier vor allem mit der Barockmusik? Ist sie immer noch ein unverzichtbarer Teil des Fächerkanons in der künstlerischen Ausbildung?

Ja, absolut. Ich bin der Meinung, dass man in der Barockmusik so viele koordinative Fähigkeiten lernt und auch so viel Sauberkeit in der Spielweise, dass ich auf gar keinen Fall in der Ausbildung darauf verzichten möchte. Sie bildet den Geist für unser polyphones Instrument. In dieser Musik gibt es so viele Momente, um junge Akkordeonisten und Akkordeonistinnen ganz sorgfältig am Instrument auszubilden.

 

Margit Kern

Mal provokativ gefragt: Ist es heute noch sinnvoll, Bach und Scarlatti auf dem Akkordeon zu interpretieren? Was sollte dabei herauskommen? Ist es nur um zu demonstrieren, dass es auf dem Akkordeon auch geht?

Das ist tatsächlich zu wenig. Die Ambition muss woanders liegen. Es kann sein, dass man diese Musik so liebt, dass man dem Stück einen eigenen Klang geben möchte. Das ist eine Motivation, die absolut nachvollziehbar ist. Eine andere Motivation, die ich übrigens richtig gut finde, liegt darin, dass man z. B. bei Bach, bei dem man sehr viel transkribieren kann, Stücke in verkleinerter Form als Solostücke mit dem Akkordeon irgendwo zu einem neuen Publikum hinbringt – und sei es auf einem Open-​Air-​Festival oder an einem Strand. Die dritte Motivation wäre, dass man der Musik von Bach oder Scarlatti mit dem Akkordeon ein ganz spezifisches Timbre gibt, das vom Künstlerischen her genauso wichtig ist wie z. B. die Transkription auf Klavier. Das Klangbild des Cembalos war ja ein ganz anderes und Musiker haben ihr ganzes Leben lang immerzu von einem zum anderen Instrument transkribiert. Das gehört einfach dazu: dieser Wunsch, etwas zu nehmen, es zu verändern und es mit dem eigenen Klang zu formen. Diese künstlerischen Ambitionen finde ich nach wie vor gültig, und wenn es Menschen gibt, die das gerne hören und man es in Konzerten präsentieren kann, ist das umso schöner.

Dann würden Sie also zustimmen, wenn man die Berechtigung solcher Werk-​Interpretationen daran misst, inwieweit solche Darbietungen der ursprünglichen Komposition etwas tatsächlich Neues hinzufügen bzw. eine neue Facette des Werks erfahrbar machen?

Das würde ich so sagen, ja. Beim Akkordeon finde ich es ja so frappierend, dass wir es hier mit einem „geblasenen“ Klang zu tun haben, wie z. B. bei der Orgel. Bei beiden wird die Musik mit Luft gemacht, aber trotzdem hat das beim Akkordeon durch den Balg eine andere Facette.

In der Akkordeongemeinde gibt es zum Teil heftige Diskussionen darüber, dass die studierten Musiker nur das Manual III, also den Melodiebass, für künstlerisch wertvolle Interpretationen gelten lassen und das Manual II, also den Standardbass, in gewisser Weise belächeln bzw. auf die M-​II-​Spieler mit einem gewissen Elite-​Bewusstsein herabsehen.

Ich muss darüber nachdenken. In den 80er-​Jahren hätte ich sofort gesagt: „Das ist ein virulentes Thema.“ Ich bin mir aber nicht sicher, inwieweit das Thema heute noch diskutiert wird, und möchte daher lieber von mir selbst sprechen. Es gibt mittlerweile ja auch viel Neue Musik und Komponisten, die für beide Manuale, also auch das Standardbass-​Manual, schreiben. In ihrer Wahrnehmung ist beides Teil des Ganzen. Ich denke da vor allem an Luciano Berio: Sequenza Nr. 13. Dieses Stück erfordert beide Manuale. Wenn wir über eine vollständige Ausbildung junger Akkordeonist*innen sprechen, dann liegt ganz bestimmt das Hauptaugenmerk auf dem Melodiebass. Und das liegt einfach an den technischen Voraussetzungen und Fähigkeiten, die man für die linke Hand und für das polyphone Denken und Spiel entwickeln muss.

Aber ich wehre mich dagegen, die Praxis mit dem Standardbass nur mit bestimmten Stilistiken zu verbinden, zu sagen, der Standardbass passe nicht zu meinem künstlerischen „Elfenbeinturm“. Nein, nein, ich finde, es ist schon wichtig, dass ein Instrument in seiner Ganzheit existieren darf und dass das Akkordeon im Jazz, in der Folkmusik und im Rock-​Bereich seinen Platz hat. Das finde ich, ehrlich gesagt, für unser Instrument richtig gut.

Das wäre meine nächste Frage gewesen. Die früher dominierende populäre Musik erfreut sich aber nach wie vor großer Beliebtheit. Sogar die traditionellen Harmonika-​Instrumente und die damit verbundenen volksmusikalischen Traditionen erleben eine unerwartete Blüte. Am Mozarteum Salzburg gibt es sogar einen eigenen Studiengang für die Steirische Harmonika. Wie sehen Sie diese Trends?

Die Ambition eines Studiengangs lässt sich nur als Ganzes und von seinem Ziel her in den Blick nehmen. Ich denke, dass diese Trends unserer Zeit geschuldet sind. Schon zu meiner Studienzeit gab es Studiengänge im Bereich Weltmusik. Und die Ambition war die, den sogenannten „ethnischen Instrumenten“ ihren Platz zu geben. Das sieht man auch an Überlegungen, Instrumenten, die z. B. aus dem Nahen Osten kommen, hier ihren Platz zu geben. Ich selbst bin absolut für Vielfalt, ich kann es nicht anders sagen.

Sprechen wir nochmal über das Akkordeon: Das Akkordeon kann ja alles, vom Barock bis zur zeitgenössischen Neuen Musik. Es hat daher musikhistorisch gesehen keinen „festen Wohnsitz“. Es ist zu spät und quasi ohne Eltern auf die Welt gekommen und daher ohne Verankerung in der Musikgeschichte, also ohne Ahnen und ohne Tradition, zumal von zweifelhafter Herkunft, wenn man an die Frühzeit des Instruments in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts denkt. Ist das Akkordeon also „heimatlos“, oder gar eine musikalisch-​instrumentale „Amöbe“, die sich ihrer Umgebung ohne feste Kontur anpasst?

Meine Kollegin Katharina Bäuml, mit der ich im Ensemble Mixtura unterwegs bin und mit der ich seit zwölf Jahren Musik aus der Zeit vor 1600 transkribiere, sagt, das Akkordeon sei für sie wie ein Chamäleon, das man in alle möglichen Musiken „hineinfädeln“ kann. Man kann es sich gar nicht wegdenken und es passt auch hinein – und das ist auch so eine Art Leitmotiv für mich. Ich finde gerade das am Akkordeon besonders schön. Und jetzt wird das Akkordeon mit der Entwicklung der Neuen Musik, die ja Anfang des 20. Jahrhunderts einen unwahrscheinlichen stilistischen Bruch vollzogen hat, zu einem Teil der Musikgeschichte, indem Kompositionen entstehen – wie von Markus Stockhausen, Charlotte Seither oder Johannes Schöllhorn –, die das Akkordeon mit einbeziehen.

Kommen wir zu Ihren musikalischen Projekten. Da haben Sie einen eindeutigen Schwerpunkt. Was bedeutet für Sie die „Neue Musik“, bzw. worin sehen Sie die Aufgabe, Kompositionen aus diesem Genre mit dem Akkordeon aufzuführen?

In der Zeit vor 1600 wurde Musik in der Regel gesungen und von Instrumenten gespielt. Was wir heute finden – die Trennung von Komposition und Interpretation, also sozusagen das Spezialistentum –, das ist ein besonderer Reichtum in der europäischen Kunstmusik. Es ist gut sich zu vergegenwärtigen, dass wir damit auch unglaubliche Möglichkeiten der Spezifizierung erreichen können. Ich habe mich zum Teil dieser Entwicklung gemacht.

Welche Aufgabe hat Musik überhaupt? Experimentell erwiesen ist ja, dass tonale Musik eine positive Wirkung auf das limbische System hat. Sie kann aufputschen oder einschläfern, euphorisierend wirken oder zu Tränen rühren. Was sagen Sie Kritikern, die die Ansicht vertreten, dass die Neue Musik vor allem den Intellekt anspricht? Manche Kritiker gehen sogar so weit, von ausgerechneten Kopfgeburten und blutleerer Musik zu sprechen.

Zunächst muss man sagen, dass es die Neue Musik gar nicht gibt. Im Grunde ist die Neue Musik ein Resultat unserer gesellschaftlichen und geschichtlichen Entwicklung. Die Wirkung von tonaler Musik ist ja unbenommen, absolut, gar keine Frage. Was für eine großartige Entdeckung in der Kunstmusik, dieses Zusammenwirken von Klängen zu ordnen und über 400 Jahre auch zu praktizieren! Am Anfang der Moderne schaute man sich an, wie die Regelhaftigkeit der Führungen in der tonalen Musik aufgebrochen und neu gestaltet werden könnte. Zu nennen wären hier vor allem Ravel und Debussy, auch Holst. Zwischen damals und heute liegen 100 Jahre und die beiden Weltkriege. Niemand wird bezweifeln, dass zwei Weltkriege kulturelle Auswirkungen und ihren Widerhall in Kunst und Kultur haben. Musik wirkt auf uns einerseits emotional, kann uns fröhlich oder traurig machen. Andererseits ist Musik auch eine kulturelle Errungenschaft, ein künstlerisches Artefakt mit einem Eigenleben und auch einem eigenen Streben, das die Komponisten und Interpreten damit verfolgen. Wir würden uns etwas rauben, wenn wir diese künstlerische Vielfältigkeit nicht auf uns wirken lassen wollten.

Müssen erst wieder 100 Jahre vergehen, bis zeitgenössische Komponisten ein breiteres Publikum finden, so wie es auch zu Beginn der Moderne war, z. B. bei Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Alban Berg usw.?

Das Ziel Neuer Musik ist nicht in erster Linie die Tauglichkeit für den etablierten Konzertbetrieb. Wir leben aber auch kulturgeschichtlich in einer besonderen Zeit, und zwar deshalb, weil wir die Musik aus vielen Jahrhunderten heute gleichzeitig zur Verfügung haben. Wir haben Musik zur Regeneration, wir haben Filmmusik, um im Film bestimmte Emotionen zu verstärken, wir haben Oper, Jazz, Rockmusik – alles gleichzeitig. Das ist schon etwas sehr Spezielles. Das hat natürlich mit den medialen Voraussetzungen der Musikrezeption zu tun, d. h., unsere moderne Gesellschaft hat die Möglichkeit, Musik immer und überall abrufbar zu haben über YouTube, Spotify usw. Musik, und damit auch Neue Musik, muss sich mit diesen Rahmenbedingungen der Rezeption beschäftigen.

Kommen wir zu Ihren Projekten. Im Internet kann man viele Beispiele für Ihre Aufführungen Neuer Musik sehen, z. B. das Stück Tslalim von Samir Odeh-​Tamimi. Was fasziniert sie an dieser Komposition, die ja in den Ohren vieler Menschen, und gerade auch in denen des nicht studierten Akkordeon-​Laien, eher gewöhnungsbedürftig klingen dürfte? Können Sie das nachvollziehen?

Ja, das kann ich nachvollziehen. Ich kann Ihnen aber auch genau sagen, was mich an dieser Komposition fasziniert. Odeh-​Tamimi stammt aus Israel und ist Palästinenser. Er ist im Schatten der großen Mauer zwischen Israelis und Palästinensern aufgewachsen. Inzwischen ist er deutscher Staatsbürger, aber indem er seine Vergangenheit, seine Herkunft, seine Geschichte und Verstrickungen in Musik und Klängen verarbeitet, entsteht ein künstlerisches Artefakt, denn er trägt ja diese ganze Geschichte mit sich. Und das ist Teil dieser Musik, die z. B. am Schluss den Klang von Klageweibern zitiert und aufnimmt.

Meinen Sie nicht, dass Musik auch immer im Kontext des Raumes steht, in dem sie aufgeführt wird? Zum Beispiel dürfte traditionelle Musik von der Insel Bali in einem europäischen Konzertsaal wohl kaum so überzeugend und authentisch wirken wie in ihrer traditionellen Umgebung.

Die Kontextualisierung ist ein ganz wichtiger Aspekt. Musik hat immer auch einen kommunikativen Charakter. Zur Kommunikation gehören immer auch Veranstalter, Räume, in denen Musik stattfindet, vor allen Dingen das Publikum und der Rahmen, in dem man auch unerwartete Erfahrungen machen kann. Diese Bedingungen müssen immer wieder neu durchdacht werden, damit Musik angemessen stattfinden und rezipiert werden kann.

Ein weiteres, meiner Meinung nach sehr interessantes Projekt ist das Ensemble Mixtura mit Katharina Bäuml und Ihnen. Da gehen Sie einen anderen Weg: mit der Schalmei, einem Jahrtausende alten Holzblasinstrument, und einem der jüngsten Instrumente der Musikgeschichte, dem Akkordeon. Wie passt das zusammen?

Ja, das ist im Grunde eine Leidenschaft (lacht). Wir haben uns zufällig im Zug kennengelernt auf dem Weg zu verschiedenen Konzerten, und haben festgestellt, dass wir mit unseren Instrumenten überhaupt keine historische Schnittmenge haben. Die Schalmei der Renaissancezeit ist die Urgroßmutter der modernen Oboe. Das Akkordeon ist erst im 20. Jahrhundert zu dem geworden, was es heute ist. Die Schnittmenge ist also gleich null. Das hat uns fasziniert, und wir haben überlegt, was wir zusammen spielen könnten. Dabei sind wir darauf gekommen, dass wir am besten Musik spielen, bei der wir beide transkribieren müssen, also Musik von vor 1600. Das hat uns inspiriert: mich z. B, weil ich dabei an den Anfang der europäischen Polyphonie gegangen bin, und für Katharina Bäuml war es spannend herauszufinden, wie man ihr jahrtausendealtes Instrument auch in der zeitgenössischen Musik lebendig werden lassen kann.

Da trifft ja die vortonale Zeit, die keine Hierarchie unter den Tönen kannte, auf die Moderne, die ebenfalls keine Hierarchie kennt.

Genau, das ist der Gedanke dabei. Es gab eine Zeit und Ordnungsstrukturen vor der Tonalität, und heute gibt es wieder Musik mit anderen Ordnungsstrukturen als Tonalität.

Das liegt geradezu frappierend auf der Hand, dass sich Musikgesetze verwandeln können und diese Verwandlung stetig ist.

Prof. Alfred Melichar

Foto: Reinhard Winkler

Bei YouTube kann man das in dem Video Miniatures sehen, wo Sie beide Stücke aus der Renaissance mit zeitgenössischen Kompositionen verbinden – speziell die Alta Capella, eine Formation aus Schalmei, Zugtrompete und Posaune, die zu Tanz und Unterhaltung an den Höfen Europas gespielt wurde. Katharina Bäuml zeigte sich überrascht, dass das Akkordeon die Funktionen der zwei begleitenden Blechblasinstrumente übernehmen kann, was tatsächlich klanglich überraschend ist, weil es dabei kaum einen Zweifel an der Authentizität der Interpretation gibt.

Ja, das liegt daran, dass das Akkordeon im Grunde auch ein Aerophon, also ein Luftblasinstrument ist, und da trifft sich der Klang sehr gut mit der Schalmei und auch mit allen alten Blasinstrumenten. Und mein Erlebnis in dieser Besetzung ist: Ich agiere wie ein Blasinstrument. Der andere Aspekt ist, dass die Transskriptionen, die wir machen, extrem durchgearbeitet sind, und zwar hinsichtlich der Stimmung, also stimmtragende Töne, in welchem Zusammenhang sie stehen müssen, damit das gut funktioniert.

Noch mal zurück zur Neuen Musik. Wie weit reicht der Begriff „Neue Musik“, bis sich die Klänge in pure Geräusche auflösen? Gibt es da irgendwo eine Grenze oder ist diese Grenze fließend?

Den Begriff „Neue Musik“ gab es schon einmal, nämlich als „Musica Nova“ im 16. Jahrhundert im Übergang zum Barock. Auch damals hat man schon von der „Neuen Musik“ gesprochen. Interessant ist ja dabei, dass wir immer noch in einer Zeit leben, wo das Neue den Bezug zum Alten impliziert, weil es noch keinen besseren Begriff gibt. In der Neuen Musik bilden sich aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen ab; es zeigt sich eine gewisse Milieubildung, wo ganz unterschiedliche Weisen, über Musik zu denken, parallel nebeneinander existieren, ohne dass wir sagen könnten, da wäre der rote Faden, an dem entlang sich die Entwicklung vollzieht. Vielleicht wird dieser rote Faden auch erst in vielen Jahren im Nachhinein konstruiert werden.

Gibt es überhaupt Qualitätskriterien für Neue Musik? Ist alles gut, was neu ist? Nach welchen Kriterien wählen Sie Kompositionen aus, die Sie aufführen wollen?

Nein, nein, es gibt auf jeden Fall Qualitätskriterien (lacht). Wenn ich etwas einspiele oder im Konzert aufführe, dann ist das schon durch einen Filter gegangen, und es kommt auch nicht alles auf die Bühne. Natürlich ist das ausgesucht. Wir initiieren die Aufträge selbst oder schauen: Mit wem kann man was in die Wege leiten? Das ist ein Prozess, der sich selbstverständlich an Qualität orientiert.

Müssen Komponisten etwas vom Akkordeon verstehen, oder komponieren sie etwas, was Sie dann interpretieren? Mit anderen Worten: Ist das Akkordeon Bestandteil der Komposition?

Vom Akkordeon müssen sie schon Ahnung haben, weil es tatsächlich ziemlich kompliziert ist, für Akkordeon zu schreiben. Der Komponist muss eine Vorstellung von den koordinativen Fähigkeiten haben, die man als Akkordeonist mitbringen muss, davon, dass es – anders als beim Klavier – beim Akkordeon zwei Manuale sind, dass ich z. B. ein e1 mit 33 verschiedenen Klangfarben spielen kann; weil ich in meinem Instrument noch eine Quintmixtur habe und in der linken Hand dreichörig bin, ist die größte Klangvielfalt zwischen e1 und c3. Und der Komponist muss wissen, dass die viergestrichene Lage des Akkordeons ganz zart klingt und nicht wie eine Pikkoloflöte, sondern ein ganz zarter, zerbrechlicher Klang ist. Dafür muss Sensibilität da sein, wenn jemand für Akkordeon schreiben möchte.

Wie schätzen Sie die beruflichen Aussichten für junge Absolventen im Fach Akkordeon ein? Kann man als Akkordeonist oder Akkordeonistin seinen Lebensunterhalt bestreiten?

Im Grunde genommen müsste man Voraussagen treffen können, welchen Stellenwert Musik in den nächsten 30 Jahren in unserer Gesellschaft haben wird. Das weiß ich nicht. Wir leben in so vielen Unwägbarkeiten, dass darüber niemand eine Aussage treffen kann. Was ich sagen kann ist, dass gegenwärtig ein großer Umbruch in der Lehre stattfindet. Viele Lehrerstellen müssen neu besetzt werden, weil ein Generationenwechsel stattfindet und viele Lehrende in den Ruhestand gehen. Da wird man plötzlich händeringend gefragt, ob man in der Klasse nicht jemanden hätte, den man empfehlen könnte. Ich habe ja meinen eigenen Berufsweg gefunden, als es keine offenen Stellen mehr gab und viele städtische Musikschulen privatisiert wurden. Es gab die Möglichkeit, seinen Weg als freiberufliche Akkordeonistin zu finden. In der aktuellen Situation denke ich gern an Absolvent*innen aus meiner Klasse, die tolle Projekte gestartet haben und sich damit ihr Leben als Profis gebaut haben. Dafür braucht man einen starken Motor, Kreativität in sich selbst, um künstlerische Ideen zu formulieren und in die Realität um zu setzen. Im Endeffekt glaube ich, dass man eine tiefe Liebe zu dem Instrument braucht, um mit dem Akkordeon professionell tätig zu sein. Letztlich ist die Frage, wie und wohin man aus seiner persönlichen Stärke wachsen kann. Diesen Weg muss man finden, weil er nicht notwendigerweise von anderen vorgezeichnet ist. Das ist die Herausforderung. Sie birgt viele Freiräume. Viele streben sehr erfolgreich nach einem Patchwork von künstlerischer Tätigkeit und Lehre; Managementfähigkeiten sind auch von großem Nutzen. Ich persönlich habe mein Berufsleben in dieser Weise gestaltet, und das, was ich tue, wie ich lebe und arbeite, das befriedigt mich sehr. Unter anderen Bedingungen hätte ich möglicherweise nicht so viele innovative Projekte gestartet.

Was geben Sie Ihren Studierenden mit auf den Weg in eine Zukunft als selbstständige Musiker?

Ich gebe meinen Studierenden mit, dass sie unbedingt an sich selbst angedockt sein müssen. Sie müssen ein gutes Gefühl für die eigenen Stärken haben, dafür, wo die eigene Liebe zur Musik liegt, und dies in die Gesellschaft transportieren. Das muss eine ganz starke Motivation sein. Wenn jemand mit 25 oder 30 Jahren seine musikalische Karriere plant und ins Konzertleben startet, ist es die Herausforderung, den künstlerischen Platz zu finden und zu klären: Was passt zu mir als Person und als Musiker oder Musikerin?

Das bedeutet, dass man für seine Ziele intensiv arbeitet – und dass man eine gute, körpergerechte Technik beim Spielen haben muss, damit man sein ganzes Leben lang mit dem Akkordeon Musik machen kann, denn das ist sehr anspruchsvoll.

Frau Professor Kern, vielen Dank für das Gespräch!

 

 

Aufmacher-Foto:

Margit Kern

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