Gianni Coscia

Ein Leben in Klarheit und Klang

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15. Dezember 2025

Lesezeit: 7 Minute(n)

Er gilt als eine der charakteristischen Stimmen des europäischen Akkordeons: Gianni Coscia, geboren 1929, Komponist, Erzähler, stiller Virtuose. Sein jüngstes Album La Violetera zeigt eindrucksvoll, wie konzentriert, farbig und frei Musik im hohen Alter klingen kann. Zum Anlass seines 95. Geburtstags sprechen wir mit ihm über sein Leben, seine Haltung zum Instrument, den Wert der Stille – und darüber, warum er auch heute noch Pläne hat.
Interview: Andrea Iven; Fotos: Daniela Bellu
  • Sie sind 95 Jahre alt und blicken auf eine außergewöhnlich lange musikalische Laufbahn zurück. Gab es einen Moment, in dem Ihnen klar wurde, dass Musik Ihr Lebensweg sein würde? Wie kam es ursprünglich zu Ihrer Verbindung mit dem Akkordeon, und was fasziniert Sie bis heute an seinem Klang?

Gianni Coscia: Mein Zugang zum Akkordeon entstand allein dadurch, dass mein Vater es spielte. Ich selbst hätte sicher ein anderes Instrument gewählt. Als Kind hatte ich nämlich die Möglichkeit, amerikanische Schallplatten zu hören. Mein Cousin, Fußballspieler bei der AS Rom, brachte sie mir 1942 mit, im Jahr des ersten Meistertitels der Roma. Als die Liga unterbrochen wurde, kehrte er nach Hause zurück und brachte mir diese Musik aus einer ganz anderen Welt mit. Beim Hören wurde mir schnell klar: In dieser Musik existierte das Akkordeon praktisch nicht. Wäre da nicht mein Vater gewesen, hätte ich es wohl nie gewählt.

Doch dann ließ mich mein Cousin auch Kramer hören, der eigentlich ein kleines Orgelinstrument spielte und kein Akkordeonist im klassischen Sinne war. Aber seine Art zu spielen, völlig losgelöst von der traditionellen Akkordeonästhetik, öffnete mir die Ohren. Während das Akkordeon bis heute ein Instrument ist, das häufig Virtuosität und technische Brillanz betont – und das sage ich ohne jede Geringschätzung – faszinierte mich bei ihm das Gegenteil: der Ausdruck, der aus nur wenigen Tönen entstehen kann.

Aus diesen Einflüssen – den Schallplatten, meinem Vater und der Freude daran, mit wenigen, konzentrierten Tönen zu arbeiten – entwickelte ich meinen eigenen Zugang zum Akkordeon, sehr weit entfernt von der üblichen Vorstellung seines Klangs.

Gleichzeitig war ich fest überzeugt, niemals Berufsmusiker zu werden. Dieser Gedanke begleitete mich lange. Als ich meinen ersten Job bei der Bank kündigte, tat ich das, um Jurist zu werden. Ich wollte ein Sabbatjahr einlegen, aber es kam anders. Ich spielte weiter, weil immer mehr Anfragen zu musikalischen Projekten kamen. Es war eine Zeit des Wandels, die Jahre der freien Musik, und plötzlich rückte auch das Akkordeon aus seinem jahrzehntelangen Schattendasein ins Blickfeld.

Ich wurde also nicht aus bewusster Entscheidung Musiker, sondern durch die Umstände. Sie führten mich dorthin, wo ich mich nie gesehen hatte: in die professionelle Musik. Sehr lange blieb ich am Rand der Szene, ein Amateur, ein Liebhaber. Doch in den 1990er-Jahren begann man, mich gezielt einzuladen, und seitdem habe ich nicht mehr aufgehört zu spielen.

[Foto: Daniela Bellu, 2025]

»Stille ist lebenswichtig. Sie schenkt den Tönen Raum und lässt der Erfindung Luft zum Atmen.«

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  • Ihr Spiel wird oft als virtuos, aber bewusst unprätentiös beschrieben. Wie definieren Sie Ihren eigenen musikalischen Stil?

Der Begriff „Virtuosität“ ist für mich irreführend. Virtus bedeutet Tugend und Wert, doch heutzutage steht der Begriff meist für technische Höchstleistungen. Mein Stil ist nicht „akkordeonistisch“ im klassischen Sinn, gerade weil ich diese Form des Virtuosentums nie gesucht habe.

Wenn ich spiele, habe ich das Gefühl, ein ideales Instrument in den Händen zu halten – eines, das in Wirklichkeit nicht existiert. Von Anfang an habe ich Akkordeonmacher zur Verzweiflung gebracht, weil ich ständig Veränderungen verlangte, um einen Klang zu finden, der unverwechselbar meiner war.

Jahrelang habe ich diesem persönlichen Klang hinterhergejagt. Ich glaube, dass ich ihn schließlich gefunden habe, vor allem dank einer Ahornholzabdeckung, ähnlich der einer Violine, die ich genau dort anbringen ließ, wo der Ton entsteht. Auch meine Spielweise unterscheidet sich von jener anderer Akkordeonisten: Ich habe nie versucht, mit Registern andere Instrumente zu imitieren. Ich suchte keinen Geigen-, keinen Bandoneonklang.

Und als ich, nach so langer Suche, diesen Klang endlich erreicht hatte – es war erst vor etwa zwei Jahren –, schlug das Schicksal zu: Ich verlor mein Gehör. Eine bittere Ironie. Heute kann ich die wahre Stimme meines Instruments nicht mehr hören. Ich kann mich unterhalten, ja, aber der Klang, dem ich mein Leben gewidmet habe, bleibt mir verwehrt. Auch die Klänge anderer Musiker erreichen mich nicht mehr natürlich. Konzerte zu besuchen fällt mir schwer, denn was ich höre, ist nur noch eine künstliche, verzerrte Version dessen, was einmal war.

  • In La Violetera fallen die Klarheit und Ruhe Ihrer Linien besonders auf. Wie ist dieses Album entstanden?

La Violetera entstand auf Anregung von Paolo Fresu. Ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, ein Soloalbum aufzunehmen. Seit Beginn meines musikalischen Weges wollte ich das Akkordeon nicht ins Rampenlicht stellen, sondern in den Dienst der Musik und der anderen Musiker, in der Kammermusik, in Ensembles, kleinen wie großen. Ich war nie der Solist, der glänzen wollte. Es machte mich glücklich, wenn die anderen Künstler um mich herum glücklich waren.

Umso überraschender war es, mich plötzlich bei einem Soloalbum zu finden, auf dem Virtuosität keinerlei Rolle spielt. Das womöglich repräsentativste Stück ist tatsächlich La Violetera, ein Stück, das auf nur vier Tönen basiert.

Der Musiker, der mich wohl am tiefsten verstanden hat, ist Paolo Fresu. Ich halte ihn für ein Genie, nicht zuletzt, weil er die Intuition hatte, das Album genau so zu benennen. Er verstand meine Ästhetik: die langen, suchenden Töne, die sich beim Hörer auf der emotionalen Ebene entfalten sollen.

Ich erinnere mich an eine Frau, die mir vor vielen Jahren sagte, sie sei tief berührt gewesen, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein „trauriges Akkordeon“ gehört habe. Diese Worte bedeuten mir bis heute sehr viel.

Gianni Coscia

[Foto: Daniela Bellu, 2025]

»Möglicherweise war mir nie bewusst gewesen, dass ich in den wenigen Momenten, in denen ich allein spielte sofort die Perspektive wechselte.«

  • Welche Rolle spielt Stille in Ihrer Musik, und im Prozess des Komponierens oder Improvisierens?

Stille ist lebenswichtig. Sie schenkt den Tönen Raum und lässt der Erfindung Luft zum Atmen. Ich weiß nicht mehr, von wem dieser Satz stammt, aber er begleitet mich seit Langem:
„Die Weite der Stille, die ein Kunstwerk umgibt, ist das Maß für den Wert des Werkes.“
Ich zitiere ihn nicht wortwörtlich, aber die Bedeutung ist genau das, worum es mir geht.

  • Hat sich Ihre Arbeitsweise im Lauf der Jahrzehnte verändert?

Gianni Coscia: Vielleicht deswegen weil ich mich nie als Profi gefühlt habe, haben sich meine musikalischen Absichten im Kern kaum verändert. Und doch war das, wozu Paolo Fresu mich ermutigte, etwas Neues, Überraschendes, ja sogar Überwältigendes.

  • Sie haben mit vielen Musikerinnen und Musikern gearbeitet. Welche Zusammenarbeit hat Sie besonders geprägt?

Gianni Coscia: Ich würde diese Frage ungern beantworten, weil ich jemanden vergessen könnte. Und weil mir tatsächlich alle, ob berühmt oder nicht, etwas gegeben haben. Ich mag es nicht, wenn Menschen ihren Wert dadurch beweisen wollen, dass sie aufzählen, mit wem sie gespielt haben. Der wahre Wert zeigt sich in dem, was man hinterlässt: in Texten oder Aufnahmen.

  • Was würden Sie jungen Akkordeonistinnen und Akkordeonisten mit auf den Weg geben, die ihren eigenen Ausdruck suchen?

Gianni Coscia: Es gibt heute eine Menge junge Akkordeonspieler in unterschiedlichsten Genres, und sie sind alle hervorragend ausgebildet. Der Rat, den ich ihnen – und allen Musikern – geben möchte, lautet:
„Verliebt euch nicht in das Instrument, das ihr spielt. Hört alle Arten von Musik, und hört Instrumente, die nicht eure eigenen sind.“
Ich weiß, das klingt vielleicht überraschend.

Um es zu verdeutlichen, ein Beispiel:
Stellt euch zwei Cellisten vor, beide gleich talentiert, gleich ausgebildet, mit denselben Lehrern. Der eine hört fast nur Cellisten. Der andere hört Musik aller Art, auch solche, die er selbst nie spielen würde. Ich bin überzeugt, dass der zweite Musiker ein reicheres, tieferes musikalisches Verständnis entwickeln wird.

Das Instrument ist nie das Ziel. Es ist nur ein Werkzeug, das man gut kennen sollte.

  • Sie sind weiterhin aktiv und neugierig. Woran arbeiten Sie im Moment, und welche musikalischen Ideen tragen Sie noch mit sich?

Gianni Coscia: Paolo Fresus Idee, weiterhin solo zu spielen, hat mich sehr ermutigt. Möglicherweise war mir nie bewusst gewesen, dass ich in den wenigen Momenten, in denen ich allein spielte sofort die Perspektive wechselte. Ohne die Verantwortung gegenüber anderen Musikern verändert sich alles. Doch die Jahre sind vergangen, und heute muss ich den Lauf der Zeit und die Grenzen des Alters berücksichtigen.

  • Wenn Sie auf Ihr Leben und Ihr Werk blicken: Welcher Gedanke begleitet Sie am stärksten?

Gianni Coscia: Ich halte mich für sehr glücklich. Aus bescheidenen Verhältnissen kommend habe ich Dinge erreicht, auf die ich stolz bin. Wären meine Jugendjahre nicht in die unmittelbare Nachkriegszeit gefallen und hätten die wirtschaftlichen Umstände es erlaubt, wäre ich vielleicht Komponist geworden. Doch ich bin zutiefst dankbar: für eine wunderbare Frau, außergewöhnliche Kinder und wertvolle Freundschaften – Beziehungen, die entscheidend und unverzichtbar waren.

  • Vielen Dank, Maestro Coscia, dass Sie sich die Zeit genommen haben, unsere Fragen zu beantworten. Wir freuen uns sehr über Ihre Antworten und dieses Gespräch mit Ihnen.

Vielen Dank auch Ihnen für dieses schöne Interview.

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Aufmacher:
Gianni Coscia

[Foto: Daniela Bellu, 2025]

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