Accordéon, Accordéon …

... der lange Weg vom Klischee zur Kunst

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2. Oktober 2022

Lesezeit: 11 Minute(n)

Schon immer leben Menschen aller Kulturen mit Musik. Jede Musik hat ihren eigenen Klang. Warum hören wir eine bestimmte Musik besonders gern und andere nicht? Suchen wir uns im Alltag unbewusst die Musik passend zu unserer Stimmung aus oder ist diese umgekehrt durch Musik beeinflussbar? Der französische Psychologe Nicolas Guéguen konnte 2010 nachweisen, dass wir auf Flirts eher eingehen, wenn wir kurz zuvor ein Liebeslied gehört haben. Und eine weitere Studie legt nahe, dass wir bei französischer Musik im Supermarkt eher französischen Wein einkaufen als deutsches Bier. Und französische Musik – das ist natürlich Musette auf dem Akkordeon!
Text: Ortrun Wagner

Unter den Dächern von Paris

Es gibt wohl keinen Akkordeonisten, der nicht schon gebeten wurde, französische Musettes zu spielen – die leichtfüßig verträumten Melodien mit dem unverkennbaren Hauch von Melancholie, die wehmütig-​romantischen Akkordeonklänge im Dreivierteltakt aus Paris, der Stadt der Liebe. Das musikalische Markenzeichen unseres Schwesterlandes jenseits des Rheins mit dem gewissen „savoir vivre“ ist in unserer Vorstellung vielfach mit den schönsten inneren Bildern verbunden: Man schlendert durch die Gassen von Montmartre oder sitzt in einem kleinen Café mit Blick auf die Champs-​Élysées und beobachtet das rege Treiben.

Frankreich, Akkordeon und Musette gehören zusammen wie die Farben der Tricolore. Besonders beliebt ist Accordéon aus der Feder des französischen Komponisten Serge Gainsbourg (1928 –1991). Der Chansonnier und geniale Allround-​Künstler der Pariser Bohème hatte das Stück 1961 speziell für Juliette Gréco geschrieben. „Die Gréco“, Muse französischer Existenzialisten und damals als Künstlerin auf der Höhe ihrer Bekanntheit, sang es auf ihre unnachahmliche Weise und machte das Lied damit zum Welthit.
Im Gegensatz zu der für die Valse Musette typischen beschwingten Leichtigkeit steht hier allerdings der so ganz andere Inhalt des zugehörigen Textes: Es geht um einen einsamen Bettler und seinen einzigen Freund, das zerzauste Akkordeon. Ein existenzialistisches Statement? Sozialkritik im Kleide hübscher Musik? Emotional überladenes Klischee?
Wer weiß. Der Beliebtheit des Akkordeons hat es jedenfalls bisher keinen Abbruch getan, und der Musette hat es auch nicht geschadet. Im Gegenteil. Dank der Musette wird in Frankreich nicht nur fleißig Walzer getanzt, sondern auch viel Akkordeon gespielt!

Typisch französisch

Sogar Valéry Giscard d’Estaing, französischer Staatspräsident von 1974 bis 1981, spielte Akkordeon. Interessanterweise ließ er bei Interviews gern, vielleicht zu Ehren seiner Geburtsstadt Koblenz oder mit Blick auf die deutsch-​französische Freundschaft, gemütvolle deutsche Volkslieder erklingen. Aber ansonsten hatte er die schönsten Musette-​Walzer drauf, vor allem, wenn er mit seinem Instrument Wahlkampf machte. Als Finanzminister und Präsidentschaftskandidat trat er 1973 sogar mit Yvette Horner beim Welt-​Akkordeonfestival Montmorency auf. Offenbar eroberte er damit die Herzen seiner Landsleute.

Dabei war und ist das typisch französische Genre der Musette unter Akkordeonisten gar nicht unbedingt unumstritten. Von den einen geradezu als Synonym für Paris und als „frenchway of life“ vergöttert, wird die Musette von anderen verachtet. Sie habe zwar zur Beliebtheit des Akkordeons beigetragen, heißt es, sei aber auch für dessen schlechten Ruf verantwortlich.
Pierre Monichon erklärt in seinem Buch L’Accordéon (Paris/Lausanne 1985, S. 77, Übers. d. Verf.): „In der Welt des Akkordeons ruft der Begriff ‚Musette‘ unvermeidlich die Idee des Tanzes hervor und die Vorstellung von volkstümlichen Tanzlokalen (guinguettes), wo Paare zu den Klängen eines kleinen Orchesters tanzen. In heutiger Zeit erinnert dieser Begriff auch an die Zeit der Belle Epoque, mit ihrer Sorglosigkeit und dem Ausdruck von Freiheit … Im übrigen kann es durchaus sein, dass die ‚Musette‘ in der bürgerlichen Schicht als Inbegriff einer gewissen Freizügigkeit verstanden wurde, man begab sich in den Nebensaal einer Wirtschaft, um seine eingeschränkte Lebensart zu vergessen, wo die Vernunft sich gegenüber dem Herzen durchsetzte.“
Das passt zu dem in Deutschland lange Zeit gängigen Vorurteil, Akkordeonmusik sei „sowieso schon immer die Instrumentalmusik des wenig begüterten Menschen“[1]August Roth, Geschichte der Harmonika Volksinstrumente, Essen: Volksmusikverlag Assindia, 1954, zitiert nach Aaron Eckstädt, Beitrag zu einer Soziologie der Harmonikainstrumente, Online Veröffentlichung 2003, S.3, was mehr oder weniger explizit auch Bildungsarmut und niederen sozialen Status der entsprechenden Klientel unterstellte. Aber so einfach ist das nicht.

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Bourrée – ein Tänzchen in der Auvergne

Foto: antike Postkarte
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Die Musette – mehr als ein Tänzchen im Hinterhof

Zwar stellt man sich unter „Musette“ meistens eine schöne Melodie im Dreivierteltakt vor, aber genauso wie der französische Volkstanz des späten 19. Jahrhunderts kann auch die in der Barockzeit aufgekommene Musikform im Tripeltakt oder einfach eine Piccolo-​Oboe gemeint sein. Zuallererst aber war die Musette ein Blasinstrument mit Lederbalg und Pfeifen, nämlich eine Sackpfeife bzw. ein Dudelsack.

Sein historischer Ursprung reicht zurück bis in die Antike, als älteste Darstellung gilt ein persisches Relief in Susa aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Wahrscheinlich wurde das anfangs noch einfache Instrument von Hirten und Bauern gespielt – zur Unterhaltung, zum Fernhalten wilder Tiere von der Herde, wohl auch zum Tanz.
Etymologisch geht „musette“ als Verkleinerungsform zurück auf das altfranzösische „muse“, lateinisch „musa“, und bedeutet „Sackpfeife“. Das Wort „muse“ gehörte vom 12. bis zum 17. Jahrhundert zum Wortumfeld „Esel/Maultier“ und hieß auch soviel wie „Fresssack der Pferde“ oder „Proviantbeutel“. Somit hängen im Mittelmeerraum gebräuchliche Bezeichnungen für die Sackpfeife zusammen mit überlieferten Kosenamen für „Esel“: muso, müsa, mussa, mus u. a.
In den norditalienischen Apenninen ist „Müsa“ eine Sackpfeife mit einem Spiel- und einem Bordunrohr. Verschiedene Ausprägungen davon findet man in vielen Ländern. Vor 400 Jahren bildete Michael Praetorius das Instrument in seiner De Organographia ab.
In der Barockzeit, als man sich in der Welt des Adels im Zuge der Schäfermode für alles Ländliche begeisterte, kamen auch die Musikinstrumente des einfachen Volkes in Mode. Der Dudelsack hielt Einzug in die höfische Musikkultur. Er wurde technisch und optisch dem verfeinerten Geschmack der Zeit angepasst und avancierte zur „Musette de Cour“.
Der Zusatz „de Cour“ (frz. „höfisch, zum Hofe gehörig“) verbindet diesen Dudelsacktyp mit dem aristokratischen Stilempfinden. Das höfische Instrument war für das Spielen kunstvoller Musik ausgelegt und verfügte über einen Umfang von fast zwei Oktaven, eine vollchromatische Spielpfeife und mehrere umstimmbare Bordunpfeifen. Der prachtvolle Blasebalg war mit einem Samtbezug verkleidet und mit Stickereien oder Perlen verziert. Das Instrument wurde gern von adeligen Amateurmusikern und von professionellen Musikern an Adelshöfen gespielt.
Namhafte Komponisten schrieben Werke speziell für Dudelsack, auch mit Orchester. In den Werken jener Zeit taucht die Bezeichnung „Musette de Cour“ nicht auf, das Instrument wird einfach als „Musette“ bezeichnet. Das überlieferte Repertoire reicht von einfachen Transkriptionen populärer Lieder bis zu sehr anspruchsvollen Kompositionen der bekanntesten Komponisten von Boismortier bis Rameau.
Während in der Kunstmusik zunehmend Musikstücke im Stile der Musette de Cour unter dem Namenszusatz „en musette“ entstanden, bei denen Melodie und Bordun des Dudelsacks von klassischen Instrumenten übernommen wurden, blieb der Dudelsack als „Musette“ weiterhin das Musikinstrument der ländlichen Bevölkerung. Als „corne muse“ oder „cabrette“ kam er aus der Auverne im französischen Zentralmassiv in die Arbeiterviertel von Paris.
Bereits vor dem 19. Jahrhundert wurde von den „Auvergnats“ (Menschen aus der Auvergne) Kohle nach Paris geschafft. In der Hoffnung auf Arbeit ließen sich viele in Paris nieder. Sie eröffneten Cafés, in denen sie u. a. Holz und Kohle verkauften, musizierten und Tanzbälle mit ihrer Dudelsackmusik veranstalteten – die sogenannten „bals des familles“, aus denen sich die beliebten „Bals-​musette“ entwickelten. Das Akkordeon spielte zu Anfang noch gar keine Rolle dabei.

Erste Akkordeons – klein und fein in Paris

Im Zuge zahlreicher Instrumenten-​Erfindungen mit Durchschlagzungen um 1800 (Orchestrion von Vogler, Äoline von Eschenbach/Schlimbach, Physharmonika von Häckl, Handäoline von Buschmann u. a.), schlug am 6. Mai 1829 mit Cyrill Demians Patentanmeldung in Wien endlich die Geburtsstunde des Akkordeons. Die ersten Wiener Exemplare erreichten Paris 1830, wurden sofort nachgebaut und fanden über Paris hinaus reißenden Absatz. 1836 gab es schon 20 Hersteller, am bekanntesten M. Busson, der auch nach England exportierte.

Vor allem in der bürgerlichen Oberschicht war das Interesse an dem kuriosen Kästchen mit nur 8 Tasten, auf dem man ohne besondere musikalische Ausbildung Musik machen konnte, sehr groß. Dem Zeitgeschmack entsprechend waren die Instrumente wie kostbare Kunstobjekte mit Perlmutt, Malerei, Schnitzerei und prächtig gemustertem Balg ausgestattet und durchaus nicht billig zu haben. Die Novitäten wurden in der feinen Gesellschaft zum bevorzugten Objekt weiblicher Zerstreuung.
Der Hersteller M. Reisner verkaufte seine Instrumente gleich mit Spielanleitung. Darin heißt es: „Man spielt das Akkordeon mit der rechten Hand, legt den Daumen unter die Tasten, indem man ihn an den kleinen Kupferstab legt, der unter den Tasten angebracht ist, so dass sich die vier Finger auf der Klaviatur befinden. Man stellt den Instrumentenkasten waagrecht auf das linke Knie, so dass der kleine Finger frei über der großen Klappe hinter dem Instrument ist, um sie nötigenfalls öffnen zu können … “[2]zitiert nach Walter Maurer, Accordion, Harmonia Musikverlags- und Handelsges.m.b.H. Wien, 1983, S. 87
Seine ausdrückliche Garantie, „dass 6 Stunden genügen würden, um dieses Instrument in angenehmer Weise zu spielen“, stieß allerdings in der Fachwelt auf Widerspruch. So kommentierte M.M. Pichenot, der schon vorher eine Spielanleitung herausgegeben hatte [3]nach Maurer, ebenda, S. 88, in der Musikzeitschrift Menestrelvom 12. Juni 1834, dies sei unmöglich und außerdem gegen jede künstlerische Gepflogenheit. Wie wahr!!! Trotzdem war das Akkordeon auf dem besten Weg, zum Volksinstrument zu werden.

Kumpel des Volkes

In der Folgezeit wurden die Instrumente vergrößert und chromatische Töne eingebaut, sodass jede Melodie spielbar wurde, man verzichtete auf das Mitklingen von Akkorden. Der Krieg 1870/71 führte allerdings zum Niedergang der französischen Produktion. Die immense Nachfrage wurde zunehmend durch Importe gedeckt. Italienische Harmonikas, allen voran Soprani, nahmen an Bedeutung zu und errangen alsbald einen erheblichen Marktanteil in Frankreich.

Der Zufluss italienischer Harmonikas wurde durch die sozialen Veränderungen in der Zeit der Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt, denn zahlreiche Arbeitsimmigranten aus Italien strömten nach Paris. Die Italiener hatten ihre Ziehharmonikas mitgebracht und tauchten damit bald auch in den Tanzsälen auf, um genauso wie die Dudelsackspieler ihr schmales Einkommen aufzubessern. Die Auvergnats wehrten sich gegen diese „Eindringline“ mit aller Kraft, schlossen sich sogar in einem Club namens La Cabrette zur Verteidigung der Interessen der traditionellen Musette zusammen. Aber schließlich gewann das Akkordeon die Oberhand, wohl nicht zuletzt dank seiner klanglichen Überlegenheit.
Die rustikalen Harmonikas der Italiener mit ihrem durchdringenden oder sogar ein wenig schrillen Klang waren geeignet, die Dudelsäcke zu imitieren, und erreichten sogar eine viel höhere Klangpräsenz, was im Trubel der Ballsäle von Vorteil war. Das Bassmanual der italienischen Modelle verlieh dem Akkordeon rhythmische Kraft, und ein Register, das jeden Ton dreifach ertönen ließ, verstärkte die Melodieführung. Die leichte Verstimmung der betreffenden Stimmzungen gegeneinander sorgte für einen interessanten, ganz eigenen silbrig flirrenden Schwebeton. Die typische Musette-​Stimmung war erfunden!
Mit der Zeit vermischten sich in den Cafés und Tanzsälen italienische Volkslieder und Gassenhauer mit den althergebrachten Tanzmelodien der Auvergne zu einem neuen Stil, der „Musette“ wie wir sie heute kennen. Es stellten sich Schlagzeug, Banjo, Piano, Kontrabass und Gitarre als Begleiter ein und neben dem Musettewalzer kamen neue Tanzstile auf wie der Paso Doble, der Foxtrott und die populäre Java (überliefert aus „cha va“, im Slang der Auvergnats für „ça va“ = es geht gut). Auch Zigeunermusik beeinflusste die neue Musette.
Die Einführung des Akkordeons in die Welt der Musette ist also weitgehend das Werk der italienischen Diaspora. Ein ganzer Arbeitssektor entwickelte sich, mit Händlern, Werkstätten und Herstellern. Die bekanntesten sind neben den großen französischen Marken Cavagnolo/Lyon (gegr. 1904) und Frères Maugein/Tulle (gegr. 1919) u. a. italienische Musette-​Akkordeon-​Hersteller wie Fratelli Crosio, Piermaria oder Crucianelli.
Aus der italienischen Gemeinde erwuchsen auch bedeutende Instrumentalisten. Einer der ersten war der frühe Immigrant Felix Peguri (1832–1906), diatonischer Akkordeonist, Akkordeonbauer und Vater von Charles, Michel und Louis Peguri, alle drei Pioniere in der Entwicklung des Akkordeons und der Musette in Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von Michel Perugi (1888–1959) stammt das berühmte Stück Bourrasque (gespielt von Marcel Azzola: https://www.youtube.com/watch?v=r2MgskCDs5E). Bekannte Akkordeo­nisten jener Zeit waren auch Aimable Pluchard, André Verchuren, Yvette Horner, Celino Bratti, Emile Carrara und Edouard Duleu.

Inbegriff französischer Folklore

In den 30er-​Jahren befand sich die französische Akkordeon-​Musette auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit. Emile Vacher (1883–1969) gilt als ihr eigentlicher Schöpfer. Er eröffnete einen Tanzsaal, wo er selbst Soli spielte und komponierte (Aufnahme 1930 Souvenir de Carnaval: https://www.youtube.com/watch?v=McI-​RUvhaCg). Jo Privat (1919–1996), genannt „le gitan blanc“ („der weiße Zigeuner“), prägte die Musette Manouche. Er komponierte mehr als 500 Musikstücke, spielte mit Edith Piaf und trat mehrere Jahrzehnte im legendären Pariser Tanzlokal Balajo auf, u. a. mit Émile Vacher und Django Reinhardt. André Verchuren (1920–2013) wurde mit über 10 000 Auftritten bekannt und verkaufte mehr als 70 Millionen Alben. Besonders populär war die „Königin der Musette“ Yvette Horner (1922–2018) im Verlaufe einer 70-​jährigen Karriere (Video: https://www.youtube.com/watch?v=​yUEH0XPImRM).

Das große Interesse an Akkordeonmusik verebbte mit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend. Dass die Musette als wichtiger Zeuge französischer städtischer Folklore dennoch erhalten blieb, ist der Pariser Künstlerszene zu verdanken. Im Verlaufe der 60er-​Jahre, als die Akkordeonindustrie bessere Instrumente auf den Markt brachte, erwachte auch wieder das Interesse an der typisch französischen Musik. Die Musette erklang von Neuem auf Tanzböden und in Ballsälen, aber zunehmend auch auf kleinen und großen Bühnen, wo virtuose Spieler ihr Können zeigten.
Maurice Larcange (1929–2007), seinerzeit durch zahlreiche Aufnahmen, Arrangements und Kompositionen international bekannt, entdeckte als Jurymitglied der Emile Vacher Trophy 1984 ein neunjähriges Mädchen, das seinen Beitrag Les Triolets (Polka vonVacher/Peguri, 1927) mit ganz außergewöhnlicher Virtuosität interpretierte. Das war Domi Emorine, die er fortan auf ihrem Karriereweg coachte. (Video 1998: https://www.youtube.com/watch?v=vgaV4feoRdE). Um auch andere Talente von klein an zu fördern, gründete Larcange eine eigene Akkordeonschule. Dabei ging es ihm auch um die Wiederbelebung der Musette in Frankreich und die damit verbundene neue Anerkennung des Akkordeons. Seine Bemühungen entsprachen ganz dem Trend der Zeit. Akkordeon-​Solisten, ursprünglich mit Musette aufgewachsen, begannen gegen Ende der 70er-​Jahre, Weltmusik, Jazz, Transkriptionen klassischer Musik, aber auch Original-​Literatur in ihr Repertoire aufzunehmen und sorgten so für ein aktualisiertes Image des Akkordeons.
Dem berühmten Erneuerer des französischen Akkordeons Richard Galliano (geb.1950), der sich als einer der ersten Akkordeonisten dem Jazz zuwandte, hatte einst Astor Piazzolla geraten, seinen „amerikanistischen“ Stilabzulegen und sich auf seine französische Herkunft zu besinnen. Galliano gilt heute nicht nur als einer der ganz großen Jazz-​Akkordeonisten, sondern auch als Protagonist der „Neuen Musette“ (Video:https://www.youtube.com/watch?v=​4XSSW0aiIUY ). Viele nach ihm haben ebenfalls die französische Musette mit Jazzelementen aufgefrischt, wie z. B. Yann Tiersen (geb. 1970), der in seine Filmmusik auch Chanson, Rock und Pop einbindet. Künstler wie die in Deutschland ansässige Akkordeonistin, Sängerin und Komponistin Lydie Auvray (geb. 1956) trugen mit internationalen Konzerten zur Wiederbelebung des Akkordeonspiels bei, und auch das berühmte Bajalo gibt es heute noch.

Neue Perspektiven

Domi Emorine (geb.1975), zunächst mit Musette groß geworden, ist eine außergewöhnlich virtuose und vielseitige Musikerin, die in alle Stilrichtungen investiert, von Traditionellem bis Klassik, von Rock und Swing bis Jazz. Die Trägerin höchster Auszeichnungen spielt hervorragend klassisches Akkordeon, ist aber auch in der Rockgruppe La Milca und in einem Jazzquartett mit Marcel Loeffler, Cédric Loeffler und Gilles Coquard aktiv. Sie gründete mit Roman Jbanov das Duo Paris-​Moscou. (Video Anatoli Shalayev, l’Hiver, https://www.youtube.com/watch?v=56spTiULV4Y). Mit ihren Tourneen und Konzerten in Moskau, Nowosibirsk und Sankt Petersburg brachte sie die französische Akkordeonmusik nach Russland. So spielte sie in Sankt Petersburg 2002 mit dem St. Pertersburg Musette Ensemble ihr einstiges Prüfungsstück Les Triolets von Vacher/Perugi (Video: https://www.­youtube.com/watch?v=​XlWqmPrUXro). Sie leitet international besuchte Meisterkurse mit Roman Jbanov und fungiert als künstlerische Beraterin bei musikalischen Projekten des Akkordeonisten Félicien Brut.

Der Akkordeon-​Weltmeister Frédéric Deschamps (geb. 1970) ist Vorstand internationaler Organisationen wie der Confédération Mondiale de l’Accordéon und dem Trophée Mondialde l’Accordéon. Er spielte anfangs ebenfalls traditionelles Repertoire, später Barock, Jazz und zeitgenössische Originalkompositionen mit Erweiterung der musikalischen Facetten seines Instruments. Als Professor und Leiter von Meisterklassen rund um die Welt gibt er sein Wissen und Können weiter.
Auch Vincent Peirani (geb.1980) wandte sich früh dem Jazz zu. Der Akkordeonist, Sänger und Komponist mit Sinn für Neues und Stilkreuzungen spielt neben Klassik, Pop, Weltmusik, Hardrock und zeitgenössischer Musik vor allem Jazz mit großem Erfolg und enthebt somit das Akkordeon dem überlieferten Frankreich-​Klischee von Musettewalzer, Baguette, Käse und Rotwein. Auf seinem Tourenplan stehen in 2023 u. a. auch Konzerte in großen Sälen deutscher Städte (https://vincent-​peirani.com/de/#biographie).
Félicien Brut (geb.1986) zählt zu den innovativen Musikern Frankreichs, die ohne Scheuklappen, aber mit großen Idealen und riesigem Können bereit und in der Lage sind, mit dem Akkordeon in die Welt der Kunstmusik einzutreten. In der Auvergne mit Musette aufgewachsen, unterrichtete er nach seinem Studium für einige Jahre, um sich dann ganz seiner Konzerttätigkeit zu widmen. Mit klassischen Musikern wie dem Gitarristen Thibaut Garcia, der Trompeterin Lucienne Renaudin und dem Kontrabassisten Édouard Macarez tritt er in verschiedenen Formationen auf. Sein interessantes musikalisches Credo und faszinierende Musikbeispiele findet man auf seiner Homepage (https://www.felicienbrut.com/).
Vincent Lhermet, geb. 1987 in Clermont-​Ferrand/Auvergne, ist der erste französische Akkordeonist mit Doktortitel im Konzertfach. Das Thema seiner Dissertation (2016) ist die zeitgenössische Akkordeonmusik in Europa seit 1990. Als Akkordeonist mit einem Repertoire von der Renaissance bis zur Gegenwart durchläuft er eine einzigartige Karriere als Konzertkünstler, Solist und Kammermusiker auf der ganzen Welt. Seine Zusammenarbeit mit Komponisten mündete in mehr als 70 Uraufführungen. Seit 2014 unterrichtet er Akkordeon, er ist Juror internationaler Wettbewerbe, Professor in Paris und Lille, er leitet Meisterkurse und gründete 2016 die Association of Accordion Teachers of Hauts-​de-​France, deren Präsident er ist. Einen Überblick über seine künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeit bietet seine Homepage (http://www.vincentlhermet.fr).

Große Chancen

Verwurzelt in Tradition, Kultur und Kunst hat das Akkordeon in seiner vielfältigen Ausprägung zweifellos seinen festen Platz in der Musikszene Frankreichs. Akkordeon wird heute als Studienfach an sieben französischen Hochschulen gelehrt, und zwar ohne Bruch mit seiner volkstümlichen Vergangenheit. Künstler der Gegenwart haben erkannt, dass das Akkordeon durch die populäre Prägung, die es vermittelt, ein Vektor der Offenheit für klassische Musik und ein Katalysator für die Erneuerung des zeitgenössischen Schaffens sein kann. Was für eine Chance!

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