Ein Virtuose von der Mittelmeerküste

Im Gespräch mit Thanos Stavridis

ao+

6. März 2024

Lesezeit: 7 Minute(n)

 

Thanos Stavridis ist ein facettenreicher Akkordeonist aus Thessaloniki, Griechenland. Seine vielseitigen Aktivitäten zeichnen sich durch eine überbordende Energie und Frische aus, die sein Publikum in den Bann ziehen. Ich lernte ihn im Rahmen seines aktuellen Albums Ciel an der Seite der Cellistin Stella Tempreli kennen. Zusammen bilden sie das Duo Tales from the Box. Thanos Stavridis gibt jedoch auch Solokonzerte und ist außerdem Teil des Projekts Balkan Bridges, an dem Künstlerinnen und Künstler aus Griechenland, Slowenien und Bulgarien mitwirken, darunter Theodosii Spassov, ein Virtuose an der Kaval (Hirtenflöte). Außerdem leitet Thanos das Balkan-Folk-Quintett dRom und ein Jazz-Quartett. Seine leidenschaftliche Hingabe für das Akkordeon prägen seine Arbeit und auch die Art und Weise, wie er darüber spricht. Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser von akkordeon.online, einen Einblick in Thanos‘ Welt zu geben.
Text & Interview: Araceli Tzigane; Übersetzung aus dem Englischen: Daniela Höfele

Foto: Vassilis Kommatas

Thanos, wie bist du zum Akkordeon gekommen – warum hast du dir genau dieses Instrument ausgesucht?

Ich sage gerne, dass es Schicksal war. Ich glaube nicht, dass ich mir das Akkordeon ausgesucht habe, sondern eher, dass es sich mich ausgesucht hat! 1982, als ich vier Jahre alt war, nahmen mich meine Eltern mich zur Weihnachtszeit mit nach Thessaloniki in einen Spielzeugladen. Ich durfe mir dort ein Geschenk aussuchen. Gleich nebem dem Laden befand sich ein Musikgeschäft, das ein Akkordeon im Schaufenster hatte. Dort blieb ich stehen und sah es mir an. Mein Vater sagte: „Thanos, wir müssen nach nebenan, da gibt es Spielzeug.“ Aber ich zeigte auf das Akkordeon und antwortete: „Ich will das hier.“ Also kauften sie mir ein kleines Spielzeug-Akkordeon aus Plastik. Das trug ich von diesem Abend an ständig mit mir herum, ich spielte jeden Tag darauf! Nach einigen Monaten beschlossen meine Eltern deshalb, mir ein richtiges Instrument zu kaufen und mich zu einem Lehrer zu schicken. Sie sehen – das Akordeon war fast mein ganzes Leben lang ein Teil von mir. In allen Lebensphasen war es mein Begleiter – sowohl in fröhlichen als auch schwierigen Zeiten, bis heute. 

___STEADY_PAYWALL___

Foto: Tommy Courtis

Was fühlst du, wenn du das Akkordeon in der Hand hältst?

Für mich ist das Akkordeonspiel der einfachste Weg, meine Gefühle auszudrücken. Zu kommunizieren.

Welche Modelle spielst du aktuell bei Live-Konzerten und bei Studioaufnahmen?

Ich habe eine sehr große Sammlung an Instrumenten, von denen einige sehr selten und interessant sind, unter anderem ein Giulietti 40 Bass aus den 1960er Jahren, ein Scandalli Butterfly-Modell aus den 1930er Jahren, ein Tiger Combo ‚Cordion, ein Sonola Rivoli „Small Hands“-Modell, das ich in der arabischen Tonleiter gestimmt habe, und ein Settimio Soprani Artist VI aus den 1960er Jahren. Bei meinen Konzerten nutze ich meist ein Beltuna Leader Fly LLMH mit LL in der Tonkammer für den typischen Jazz-Sound, und eine Sonderanfertigung eines Siwa & Figli-Akkordeons aus fünfzig Jahre altem Walnussholz. Diese beiden Modelle haben alle Spezifika, die ich brauche, wenn ich spiele. Für Aufnahmen verwende ich je nach gewünschtem Klang entweder ebenfalls diese beiden oder eines der anderen.

 

Foto: Giannis Gouzidis

 

Du bist Grieche und bezeichnest dich selbst als „einer der Pioniere der griechischen Balkanszene“. Was bedeutet „griechischer Balkan“ in musikalischer Hinsicht?

Griechenland hat eine Besonderheit: Bei uns kreuzen sich aufgrund der Lage zahlreiche Handelswege. Deshalb vereinen sich bei uns Elemente aus der westlichen, östlichen, balkanischen und mediterranen Kultur, ebenso wie natürlich unsere eigene, deren Traditionen über 3.000 Jahre zurückreichen. Im Süden des Landes haben wir Thrakien, Makedonien und Epirus – drei geografische Regionen, in denen die traditionelle Musik viele Gemeinsamkeiten mit unseren südlichen Nachbarn aufweist. Wenn es um Volkskultur geht, können wir keine Grenze ziehen und sagen: „Das ist meins, das ist deins“, so wie wir es mit politischen Grenzen tun. Gerade im Balkanraum gibt es seit über 500 Jahren eine Mischung aus Traditionen und Kulturen. Symbolisch gesprochen: In der Küche wären wir ein richtig schöner, würziger Salat! In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gibt es beispielsweise eine ganz besondere Veranstaltung namens „Anastenaria“. Das ist ein Feuertanz, bei dem die Instrumente Daouli (große Trommel mit doppeltem Rahmen), Gajda (Dudelsack) und Lyra (Streichinstrument, das ähnlich wie ein Cello gehalten wird) gespielt werden. Sie können sich vorstellen, wie heidnisch dieser Brauch ist. Den gleichen gibt es in Bulgarien. Ich sage gerne, dass der Berg Enos [höchster Berg auf der griechischen Insel Kefalonia, Anm. d. Red.] uns alle trägt – Griechen, Slawen, Albaner… und natürlich hört man in unserer Musik entsprechende Ähnlichkeiten.

 

Foto: Sofia Camplioni

Doch auch wenn Griechenland zum Balkanraum gehört, scheint seine Volksmusik anders behandelt zu werden, als etwas Separates, nicht wahr? Was denkst du, woher das kommt?

Anknüpfend an die letzte Antwort, möchte ich sagen, dass die griechische Musik auch ihre eigenen Stile hat. Wir haben den Rembetiko, die urbane Musik vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein anderer Punkt, den ich wichtig finde, ist die Sprache. Wenn du eine der Sprachen des Balkanraums sprichst – vielleicht mit Ausnahme der albanischen – kannst du auf dem Balkan herumreisen und dich problemlos verständigen. Aber die griechische Sprache ist anders. Deshalb glaube ich, wir gehören einerseits zum Balkan, aber gleichzeitig auch zu Europa, zum Mittelmeerraum und zum Osten.

Gibt es Akkordeonistinnen oder Akkordeonisten, die dich inspirieren oder die du besonders bewunderst?

Über diese Frage könnten wir uns stundenlang unterhalten. Das Akkordeon ist ein Instrument, das in der ganzen Welt verbreitet ist und in vielen Kulturen das Haupt-Volksinstrument war, von Brasilien und den karibischen Ländern über Mitteleuropa, Skandinavien, Südafrika, Russland, das Schwarze Meer und den Balkan hinweg bis nach Indien und China. Es gibt also viele Akkordeonisten, die ich bewundere und von denen ich mich inspirieren lasse. Einige von ihnen sind Richard Galliano, Gus Viseur, Jean Luis Matinier, Vincent Peirani aus Frankreich, Frank Marocco Art van Damme aus den USA, Sivuca, Dominguinhos, Mestrinho aus Brasilien, Maria Kalaniemi aus Finnland, Ionica Minune aus Rumänien, Petar Ralchev und Martin Lubenov aus Bulgarien, Jovan Pavlovic aus Serbien, Milan Zavkov und Sashko Velkov aus Nordmazedonien, Simone Zachini aus Italien und natürlich Antonis Amiralis, Takis Soukas und Kostas Stamatakis aus Griechenland.

Foto: Sofia Camplioni

Da unsere Leserinnen und Leser ja alle sehr akkordeonbegeistert sind, habe ich diesbezüglich noch eine sehr spezifische Frage: Worauf achtest du bei der Auswahl eines Akkordeons? Gibt es bestimmte technische Merkmale oder subjektive Empfindungen, nach denen du gehst?

Natürlich. Mit der Wahl des richtigen Instruments ist es wie mit der Wahl des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin! Zuallererst kommt die Liebe auf den ersten Blick. Ich muss mir meine Instrumente gerne ansehen. Danach kommt der Klang. Ich mag Akkordeons, die einen weichen, tiefen Cassotto-Klang haben. Und dann kommt die Form: Wie leicht fällt es mir, das Instrument zu spielen, und wie gestalten sich die mechanischen Komponenten? Wichtig ist auch das Gewicht – ich spiele im Stehen, also muss das Akkordeon leicht sein. Aber grundsätzlich halte ich es für das Wichtigste, darauf zu achten, wie gerne man sich selbst zusieht, wenn man das Instrument spielt.

Lass uns über Instrumentenbauerinnen und Instrumentenbauer sprechen. Wie ist die Situation diesbezüglich in Griechenland und auch Europa – und mit welchen Akkordeontypen haben wir es in Griechenland zu tun?

Hier in Griechenland spielen wir die zwei Haupt-Akkordeontypen: Tasten und Knöpfe. Und auf der linken Seite haben wir das Stradella-System und natürlich das freie Rohrblatt für die klassische Musik. Wenn wir also auf Reisen sind und etwas passiert, kann das Instrument problemlos repariert werden – beispielsweise auch von einem Geigenbauer, wenn kein Akkordeonbauer vor Ort ist. Ich bin durch ganz Europa gereist und hatte nie ein Problem damit, jemanden für Reparaturen zu finden. Zwar ist ein Akkordeon keine Gitarre, für die man in fast jeder Stadt eine gute Adresse findet, aber es gibt in ganz Europa sehr viele gute Akkordeonbauer. Auch in Griechenland haben wir einige – und das ist auch gut so: Wir haben so große klimatische Unterschiede, und das Instrument leidet ziemlich, wenn man zum Beispiel an einem Tag in Ioannina [im westlichen Griechenland, Anm. d. Red.] und am nächsten Tag auf Kreta spielt.

Foto: Giannis Gouzidis

Welche Träume oder Visionen hast du in Bezug auf das Akkordeon und deine Musik? Das kann alles sein, von einem 100-köpfigen Akkordeonorchester bis hin zur Wiederentdeckung eines mythischen Akkordeonisten oder der Gründung eines Duos – lass deiner Fantasie gerne freien Lauf!

Haha – kannst du dir ein Orchester mit 100 Akkordeons vorstellen? Das wäre die Hölle der Feinstimmung… Aber im Ernst: Tatsächlich war es immer mein Traum, zu reisen und durch meine Musik zu kommunizieren. Diesen – durchaus gelebten – Traum verlasse ich allmählich, denn das Ganze ist natürlich eine unendliche Geschichte. Und ich bin bis zum heutigen Tag bereits sehr viel in Europa herumgereist und habe mit einigen meiner musikalischen Helden zusammengespielt. Andererseits würde ich mich jedoch auch über eine Möglichkeit freuen, an Orten zu spielen, wo man vielleicht noch nie ein Akkordeon gesehen hat. Und wenn ich eine Zeitmaschine hätte, würde ich natürlich in die Abbey Road Studios gehen, als dieses eine Foto von John Lennon aufgenommen wurde, auf dem er eine Hohner Gola spielt. Ich würde zu gerne hören, was er dann spielen würde – und dabei würde ich es nicht belassen: Ich würde ihn bitten, mich in der Band mitspielen zu lassen. Ich bin ein Beatles-Fan, einige ihrer Songs spielen wir auch im Akkordeon-Cello-Duo Tales from the Box. Und weißt du was? Die klingen großartig.

Du hast mehrere Alben veröffentlicht, eines davon mit der Cellistin Stella Tempreli als Duo Tales from the Box, und du hast auch schon mit vielen weiteren Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet . Wenn du die Musik für solche Projekte komponierst oder arrangierst, worauf achtest du besonders?

Wenn ich komponiere, versuche ich einfach, mich von der Musik aus meiner Realität „herausziehen“ zu lassen. Das Einzige, was ich beim Arrangieren im Kopf habe, ist, Raum für das Spiel zu  lassen. Das Einzige, was die Musik braucht, um zu fließen, ist, dass man sie spielt. Es heißt ja schließlich „spielen“ und nicht „performen“ – und das ist kein Zufall: Wir Musikerinnen und Musiker sind wie erwachsene Kinder, und wenn wir uns mit unseren Instrumenten versammeln, spielen wir zusammen, genau wie es Kinder tun. Und eben diese Frische versuche ich mir bei allem, was ich tue, zu bewahren.

Was sind deine Pläne für die Zukunft – sind vielleicht sogar neue Alben in Vorbereitung?

Ich plane tatsächlich ein neues Album mit meiner Band dRom, auf dem wir traditionelle Musik aus der makedonischen Region spielen. Wir sind gerade dabei, es abzumischen, und ich denke, es wird in den nächsten Monaten herauskommen. Außerdem habe ich bereits begonnen, neues Material zu komponieren, das dann wahrscheinlich meine nächste Veröffentlichung sein wird. Ich habe so viele Ideen, die ich aufnehmen und veröffentlichen möchte: ein weiteres Soloalbum, ein Album mit Liedern – denn bisher waren alle meine Alben instrumental –, ein Album mit Wiegenliedern, ein Märchen und so weiter und so fort. Ich hoffe sehr, dass ich die Gelegenheit bekomme, all das zu verwirklichen.

Gibt es abschließend noch etwas, das du unseren akkordeonbegeisterten Leserinnen und Lesern mitgeben möchtest?

Es macht mich jedes Mal sehr glücklich, jemanden zu treffen, der das Akkordeon so sehr liebt. Deshalb habe ich mich sehr über dieses Interview gefreut. Und zum Schluss möchte ich noch etwas wirklich Nützliches loswerden: Wie viele Akkordeons braucht ein Akkordeonspieler, um genug Instrumente zu haben? – Immer eines mehr 😉

Lieber Thanos, vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Informationen zu Thanos Stavridis gibt es unter https://thanosstavridis.com/, Hörproben finden sich auf Youtube.

Foto: Sofia Camplioni

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Werbung

L