Text: Peter M. Haas, Dieter Plinke, Fotos: Peter M. Haas
Vom Erlkönig haben alle schon gehört. Bei Nacht und Nebel ist er unterwegs, mal hier, mal dort, und will man ihn zu fassen kriegen, ist er schon wieder im Nebel verschwunden. Früher gab man in der Kfz-Branche diese Bezeichnung den Test-Prototypen, die – oft mit fremder Karosserie getarnt – auf einsamen Straßen heimlich unterwegs waren.
Auch die Akkordeonszene hat jetzt ihren „Erlkönig“. Er war schon auf Musikmessen, in Presse und TV als kommendes Modell präsentiert worden, dann wurde es wieder stiller um diesen Erlkönig. Ist er für immer in Nacht und Nebel verschwunden? Aber nein! Hier lesen Sie die ganze Geschichte vom Erlkönig aus Pirmasens und seinem Entwickler Manfred Neumann.
Wie alles begann: In der Redaktion des akkordeon magazins hatte Ende September 2021 ein älterer Herr angerufen. Habe er berichtete von einem Akkordeon, das er entwickelt habe und von dem bereits zahlreiche Musiker beeindruckt seien.
Was steckte dahinter? Man ist ja zunächst ein wenig misstrauisch – handelte es sich um einen Spinner? Wir wollten mehr erfahren und trafen Manfred Neumann zunächst zu einem Interview über Skype, anschließend zu einem persönlichen Gespräch in Pirmasens.
Grenzenlose Neugier
Nein – ein Spinner ist Manfred Neumann auf keinen Fall. Wir treffen einen Herrn, der bereits hoch in den Achtzigern ist, aber offen, wach, freundlich und kommunikativ. Ein ausgebildeter Handzuginstrumentenbauer ist er nicht, aber ein universal gebildeter, findiger Metallhandwerker – man könnte ihn vielleicht einen Tüftler nennen, wenn dieses Wort nicht einen etwas abwertenden Beiklang hätte. Besser zu sagen: ein grenzenlos neugieriger Mechaniker, dem es Spaß macht, Dingen auf den Grund zu gehen, die sonst als gegeben hingenommen werden.
Ausgebildet wurde er als Metallbauer bei Krupp/Adelt. In dieser Zeit kam er auch erstmals mit dem Akkordeon zusammen: Er übte und spielte auf einem Instrument der Firma Meinel & Herold. „Aber nur ein bisschen“, sagt er.
Manfred Neumann in seiner Werkstatt
Manfred Neumman in seiner Werkstatt
Hier hakt etwas, dort klemmt etwas
Irgendwann dann bat ihn ein Freund, sein altes Hohner-Akkordeon zu reparieren. Die Reparatur gelang, und Neumann hatte Blut geleckt: Er war neugierig geworden, wie diese Akkordeons aufgebaut sind. Er beschaffte sich eine fünfchörige Weltmeister Cantus aus DDR-Produktion, nahm sie auseinander, studierte den Aufbau. Hier hakte etwas, dort klemmte etwas – gab es nicht einiges daran zu verbessern?
In der Folge freundete er sich mit zahlreichen Akkordeon-Fachleuten an, mit denen er Fragen des Akkordeonbaus diskutierte. Einer seiner Duzfreunde wurde Franz Lindemeyer, der jahrelang Entwickler bei Hohner gewesen war. Neumann verbiss sich in die Frage, wie eigentlich die Schwingung der durchschlagenden Stimmzunge kontrolliert wird.
Durchschlagend
Nun ist der Begriff „durchschlagende Stimmzunge“ keine besonders klare Bezeichnung, beibehalten eher aus Bequemlichkeit. Er soll die frei schwingenden Stimmzungen unterscheiden von den aufschlagenden Stimmzungen, wie sie zum Beispiel die Klarinette hat. Einige Fachleute sagen längst, man solle besser von „rahmenspalt-kombinierter Zunge“ (Maik Hester, Akkordeon begreifen, Saarbrücken 2009, Seite 53) sprechen.
Aber wie auch immer: Niemand konnte Neumann genau erklären, wie denn genau diese durchschlagende Stimmzunge schwingt. Offenbar beruhten auch die Abmessungen innerhalb des Stimmstockes – also die Bemessung der Kanzelle, die der einzelnen Stimmzunge als Resonanzraum zur Verfügung steht – eher auf Tradition als auf exakten Messungen. Neumann baute einen Test-Stimmstock, dessen Innenabmessungen durch einen Schieber stufenlos variiert werden können, und dazu eine vollständige Teststation für eine dB-Messung in Abhängigkeit von starkem oder schwachem Spielwind in Zug und Druck. Er testete damit herkömmliche Stimmstöcke mit verblüffendem Resultat: Nach seinen Ergebnissen verlieren die Stimmzungen in den herkömmlichen Stimmstöcken bis zu 30 Prozent ihrer potenziellen Leistung.
Das Demonstrationsmodell einer Stimmzunge
Das Demonstrationsmodell einer Stimmzunge
Professioneller Maschinenpark
Professioneller Maschinenpark
Stimmzungen aus Tschechien
Stimmzungen aus Tschechien
Matthias Matzke bestätigte uns: Ich habe den „Erlkönig“ auf der Messe vor zwei Jahren auf Herz und Nieren getestet. Folgendes Feedback habe ich Manfred Neumann dazu gegeben: „Die Tonansprache ist hervorragend, und außergewöhnlich gut gelungen finde ich die klangliche Balance im Diskant: Der Lagenausgleich zwischen hoch und tief gelingt mühelos. Akkorde in weiter Lage sprechen sehr gut zusammen an und verklingen außergewöhnlich ausgewogen. Akkorde in enger Lage rechts klingen sehr sauber und rein, was am Akkordeonklang häufig problematisch ist. Der Dynamikbereich des Instruments und die Klangstabilität sind hervorragend. Der Klangcharakter ist mir etwas zu leblos. Das ist vermutlich stark subjektiv, aber ich höre dem Akkordeon nicht so gerne zu wie zum Beispiel meiner Gola. Die linke Hand war noch nicht fertig, kann also nicht beurteilt werden.“
Ich schätze Manfred Neumann als kompetenten Akkordeonbauer ein: Sicherlich steckt viel Arbeit im „Erlkönig“ und sicherlich wurde sehr viel an der Ausgewogenheit optimiert. Das ist letztlich ja auch das, was die Gola so teuer macht. Ob und wie dieser „Erlkönig“ in Serie gehen könnte, ist dabei die große Frage. … Meine Wertung: Weiter so, ich freue mich über Updates!
Foto Matthias Matzke_web
Zwilling in Tschechien
Diese Teststation, mit der Neumann das Verhalten der Stimmzunge bei zu- und abnehmendem Zug und Druck untersuchte, weckte das Interesse des tschechischen Stimmzungen-Lieferanten. Auf seine Bitte baute Neumann für ihn ein Duplikat.
Ein anderes Thema, das wichtig wurde, war die Verteilung der Ganztöne und Halbtöne auf die Stimmstöcke. Eine bekannte Tatsache: Pro Oktave haben wir sieben weiße, aber nur fünf schwarze Tasten. Wie verteilt man das auf die Stimmstöcke? Eine häufig im Akkordeonbau praktizierte Lösung, die plausibel scheint, besteht darin, einen Teil der weißen Töne auf den zweiten Stimmstock, der eigentlich den schwarzen Tasten vorbehalten ist, zu verlagern, um eine Gleichzahl zu erreichen. Nein, entschied Neumann: Denn diese Lösung hat zur Folge, dass die Spielhebel der so verlagerten Töne mit völlig unbefriedigender Hebelwirkung arbeiten. Man müsste diesen verlängerten Spielhebeln eine eigene, dritte Achse geben.
Weltmeister?
So entstand eine ganze Reihe verschiedener Änderungskonzepte im Akkordeonaufbau. Neumann nahm eine Weltmeister S4 als Grundlage und baute sie nach seinem Konzept um. Wie sollte sein Instrument heißen? Keine Frage … Als alter Kfz-Profi nannte er es „Erlkönig“, so wie die Autohersteller früher ihre (oft noch im fremden Gehäuse getarnten) Testmodelle nannten. Um 2014 war das Modell fertig. Längst hatte Neumann Kontakte zur Firma Weltmeister geknüpft, die damals unter der Geschäftsführung von Gabriele Herberger stand. Weltmeister zeigte ernsthaftes Interesse, dieses Instrument zu bauen, aber durch die nachfolgende Insolvenz der Klingenthaler Firma verliefen diese Pläne zunächst im Sand.
Testgerät für das Schwingungsverhalten der Stimmzungen
Testgerät für das Schwinungsverhalten der Stimmzungen
Ein Supita-Stimmstock auf dem Prüfstand
Ein Supita-Stimmstock auf dem Prüfstand
Messeerfolge
Als die Firma Weltmeister mit neuem Inhaber wieder flottgemacht war, gab es 2019 eine neue Einladung an Neumann. Firmenchef Frank Meltke lud ihn ein, das Instrument auf dem Messestand auf der Frankfurter Musikmesse und auf der amerikanischen NAMM-Show vorzustellen. Tatsächlich wurde es dort als Modell einer kommenden Weltmeister-Neuerscheinung vorgestellt. Zu den Musikern, die den „Erlkönig“ auf dem Messestand spielten und davon sehr angetan waren, zählt auch der Akkordeonist Matthias Matzke.
Neumann selbst war aber nicht zufrieden. Zu viel an diesem Instrument erschien ihm als Kompromiss, und er beschloss, das Konzept seines Instrumentes und viele einzelne Komponenten noch einmal grundlegend zu überarbeiten.
Inzwischen ist dieser neue, zweite „Erlkönig“ fertiggestellt: Die dritte Achse wurde aufgegeben; die Stimmen sind jetzt auf den Stimmstöcken nach „weiß“ und „schwarz“ getrennt. Trotzdem passt alles nach wie vor in das Weltmeister-Gehäuse. Das Gewicht von Korpus und Tastenhebeln wurde deutlich reduziert, die Formen von Verdeck und Korpus wurden geglättet. Die Stimmzungen, geliefert aus Tschechien, werden von Neumann individuell nachgeschliffen. Sie werden nicht aufgenietet, sondern aufwendig geschraubt, das ermöglicht individuelle Korrektur.
Der Musiker Markus Singer hat einige Videos mit dem „Erlkönig 2.0“ auf YouTube veröffentlicht. Hier sein Fazit zum Instrument: „Das Instrument von Manfred Neumann ist seit ganz langer Zeit wieder ein wertiger und bemerkenswerter Beitrag zur Weiterentwicklung des Akkordeons. Im Gegensatz zu Weiterentwicklungen mit dem Ziel, die Herstellungskosten zu reduzieren (so wie es meistens bei Neuentwicklungen der Fall ist), betritt Manfred Neumann neue Wege.
Die Resonanzkanzellen sowie die Schraubverbindungstechnik bei den egalisierten Stimmplatten und die Zwei-Achsen-Tastatur mit Schwarz-weiß-Bestückung der Stimmstöcke zeigen die Richtung an, in die es gehen kann. Erfreulich war auch das geringe Gewicht des Akkordeons, das einfach zum Spielen einlädt. Das Ergebnis der Entwicklung ist außergewöhnlich. Sehr gute Tonansprache, warmer Cassotto-Ton und ungeahnte Reserven für dynamische Stücke wie es zum Beispiel ein Tango benötigt. – Ja, es macht Spaß, mit dem Instrument zu spielen – gerne wieder!“
Quelle: www.musiker-board.de
Volltönendes Leichtgewicht
Neumann gestaltete einen neuen Holzkorpus, bei dem jede Möglichkeit der Reduzierung genutzt wurde. Er verwendet inzwischen auch anderes, leichteres Holz, sodass die Diskantseite im Gewicht drastisch reduziert werden konnte: Das Gewicht des Instruments beträgt statt der früheren 13 kg jetzt nur knapp über 10 kg. Es ist ein beeindruckendes Gefühl, dieses vierchörige Instrument auf den Schoß zu nehmen: Es ist sehr hell, klar und leicht in der Tonansprache und Dynamik, dabei aber gefühlt kaum schwerer als ein mittelgroßes Akkordeon.
Das Aus für „Erlkönig aus Klingenthal“
Leider wird sich aber die Hoffnung Manfred Neumanns, sein Instrument als künftiges Spitzenmodell der Klingenthaler Produktion zu sehen, offenbar nicht erfüllen. Es gab eigenartige Vorkommnisse, die auch wir nicht aufklären konnten. Seit Sommer 2021 herrschte monatelang rätselhafte Funkstille zwischen Klingenthal und Pirmasens. Inzwischen bestätigte uns Firmenchef Frank Meltke in einem Telefongespräch, dass er eine Serienproduktion dieses Instruments in seiner Firma nicht mehr für realistisch hält und deshalb das Projekt als gescheitert und beendet ansieht. In einer E-Mail an Manfred Neumann im Herbst 2021 wurde die Zusammenarbeit aufgekündigt.
Es geht voran
Währenddessen ist aber rund um den „Erlkönig“ die Zeit nicht stehen geblieben. Der Prototyp des „Erlkönig 2.0“ ist endgültig vorführbereit. Schon längst hatten sich Fans von Manfred Neumann und seiner Entwicklung in einem Blog auf der Plattform www.musiker-board.de zusammengefunden. Einige von ihnen haben in den vergangenen Monaten einen Besuch in Pirmasens bei Neumann unternommen, das neue Instrument ausprobiert und ihre Eindrücke ausgetauscht. Seit November 2021 gibt es auch YouTube-Videos, auf denen der Münchner Musiker Markus Singer das Instrument mit Einspielungen einiger Titel aus dem Weltmusik-Repertoire präsentiert. Unter den Freunden des „Erlkönig“ gibt es erste Überlegungen, was zu tun sein könnte, wenn die Zusammenarbeit mit Weltmeister endgültig scheitern sollte: Ob man eine Stiftung gründen könnte, die das Wissen und die Entwicklungen des Erfinders Neumann pflegt und weiterträgt? Ob sich eine Kooperation – beispielsweise mit einem der kleineren italienischen Hersteller – bilden ließe?
Wie es weitergeht – darüber werden wir gerne fortlaufend berichten. Neumanns Instrument ist ein Schatz voller genialer Erfindungen und Verbesserungen – es sollte doch möglich sein, diesen Schatz für die Akkordeonwelt verfügbar zu machen.
Nachgefragt bei Frank Meltke, Geschäftsführer der Weltmeister Akkordeon Manufaktur GmbH
Die Weltmeister Akkordeon Manufaktur GmbH hat eine Vielzahl von Projekten, die sich u. a. mit konstruktiven Veränderungen, Material / Werkstoff- und Technologiesubstitution beschäftigen, seit November 2018 begonnen. Eines dieser Projekte ist das im Dezember 2018 gestartete gemeinsame Projekt mit Manfred Neumann. Als Auftraggeber haben wir dieses Projekt mit dem strategischen Ziel gestartet, neue massenreduzierte Konstruktionen, verbunden mit der Verbesserung der klanglichen Eigenschaften und unter Nutzung des Potentials von Leichtbautechnologien zu entwickeln, diese musterhaft herzustellen und den Prototypen in Serienfertigung zu überführen. Manfred hat als Auftragnehmer seine vielen Jahre Erfahrung eingebracht, wir die notwendigen finanziellen und materiellen Ressourcen.
Neben konstruktiven Anpassungen sollte die Substitution bzw. Modifizierung der konstruktiven Wirkprinzipien einzelner Baugruppen bei vollständiger Erhaltung deren Funktion ein eigenständiges Potential zur Verbesserung der klanglichen / spielerischen Eigenschaften und die Gewichtsreduzierung aufzeigen. Dadurch können sich Möglichkeiten eröffnen die Konstruktionen von vornherein auf geringere Massen auszulegen, bspw. durch Anwendung von Wirkprinzipien mit kürzeren Kraftflüssen, direkten Bewegungsübertragungen, weniger bewegten Teilen, usw. Auch durch die konsequente funktions- und beanspruchungsgerechte Gestaltung der Einzelteile wollten und wollen wir neue Freiheitsgrade, die gezielt zur Reduzierung der Masse genutzt werden sollen, erarbeiten.
Bei der Bewertung der Veränderungen am Instrument ist zu berücksichtigen, dass einerseits die Funktion des Akkordeons, insbesondere Akustik und Spielbarkeit nicht leiden darf, andererseits die technologische Umsetzbarkeit sowie die Überführung in eine Serienproduktion gewährleistet sind. Sowohl funktionelle als technologische Randbedingungen sind in diesen Projekten definiert. Gerade die objektive Erfassung der klanglichen, akustischen und haptischen Anforderungen ist eine Herausforderung. Dieser Ansatz sollte insbesondere in der Diskantmechanik verfolgt werden. Bei Konstruktionssubstitution ist praktisch immer auch eine Substitution oder Modifikation der Technologie erforderlich.
Das Projekt war zunächst auf ein Jahr ausgelegt, wurde jedoch mehrfach verlängert. Da Mitte 2021 die notwendige Dokumentation und der Wissenstransfer, die wesentliche Bestandteil aller unsere Projekte, so auch für dieses Einzelprojekt, nicht bzw. nur rudimentär zur Verfügung stand und wir Zweifel an der serienreife des Produktionsprozesses haben, können wir die Frage von Matthias Matzke „… Ob und wie dieser Erlkönig in Serie gehen könnte” nur so beantworten, dass wir uns dazu entschieden haben, dieses eine Projekt zu beenden.
Dies hat weniger etwas mit dem Instrument, als vielmehr mit der Möglichkeit der Überführung in Serienproduktion zu tun. Manfred wünsche ich alles Gute, vor allem viel Erfolg bei der Erfüllung eines seiner Lebensträume, ein herausragendes, innovatives Akkordeon zu bauen.
Frank Meltke
CEO
Weltmeister Akkordeon Manufaktur GmbH, Markneukirchner Straße 44–46, 08248 Klingenthal, Germany Tel.: +49 37467 500
frank.meltke@weltmeister-akkordeon.de
Diese beiden Fragen wurden von Herrn Meltke leider nicht beantwortet:
Alle Fans möchten wissen, welche Neuerungen die neue Supita im Weltmeister Programm hat, die ja schon lange angekündigt war und die offenbar jetzt erschienen ist? In welcher Hinsicht beziehungsweise in welchem Ausmaß haben die Entwicklungen von Manfred Neumann Anteil daran?
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