Text: Jakob Steinkellner; Fotos: Maria Frodl, Reinhard Winkler
Anfänge
Ganz im positiven Sinne „schuld“ daran, dass Prof. Alfred Melichar (1957 in Wien geboren) den Weg zum Akkordeon fand, sind einerseits seine Mutter, andererseits – und zwar eigentlich noch viel mehr – seine Schwester. Schon jeher war im Familienhaushalt, der sich im österreichischen zehnten Wiener Arbeiterbezirk „Favoriten“ befand und in dem Melichar aufwuchs, ein Akkordeon vorzufinden. „Meine sieben Jahre ältere Schwester war mit dem Akkordeon nicht glücklich und gab nach drei Jahren wieder auf. Nun war ich gewissermaßen die Hoffnung der Familie“, scherzt der Professor heute schmunzelnd. Eine schicksalhafte und zukunftsweisende Fügung, wie sich später herausstellen sollte.
Anfänglich besuchte Melichar instrumentalen Gruppenunterricht am Akkordeon an der Volkshochschule Wien Favoriten. Sein erster Lehrer, Prof. Walter Maurer (1931–2017), erkannte seine Begabung und konnte ihn sofort für das Instrument begeistern. Leider fehlte es aus Melichars heutiger Sicht, trotz Maurers Engagement, an weitreichenderen Fördermaßnahmen. Somit „erzog“ er sich bereits im Jugendalter zu instrumentaler Selbstständigkeit. – „Was will ich und wo will ich hin?“ Selbstreflektierende Fragen wie diese prägten ihn als Akkordeonisten und Pädagogen schon damals, aber ebenso langfristig – also bis dato.
Maurer, ein wahrer Freund von Akkordeonwettbewerben, schaffte es, durch gezielten Funkenflug eben jenes Feuer für akkordeonistische Vergleiche im jungen Gegenüber zu entfachen. Demzufolge partizipierte Melichar bereits früh bei nationalen sowie internationalen Wettbewerben und spielte dort immer mit Begeisterung, wie er selbst erzählt. Bei diesen Veranstaltungen kam er erstmals mit der internationalen Akkordeonszene in Berührung. Daraus entpuppte sich sein Interesse an der vielfältigen, bunten Konzertliteratur. Eben jene Leidenschaft trieb sein Streben nach instrumentaler Solistentätigkeit immer weiter voran. Durch Eifer, instrumentale Effizienz, Drang zur Innovation und ein Übermaß an Selbstdisziplin gelang es ihm nur wenige zeitliche Wimpernschläge später, seine künstlerischen Ansprüche und Träume zu verwirklichen. Anfängliche Visionen wurden zu gelebter Realität.
Erste Lehrtätigkeit und Professur
Nach der Matura studierte Melichar an der Musikhochschule Wien im Lehrgang für Musikalische Jugend- und Volksbildung, an der Pädagogischen Akademie in Wien (Lehramt für Hauptschulen Deutsch und Musikerziehung) und am Franz Schuberth Konservatorium (Lehramts- und künstlerische Reifeprüfung Akkordeon). Zwischendurch unterbrach er das Studium und absolvierte bei den Wiener Kinderfreunden seinen Zivildienst. In dieser Zeit sammelte er erste Lehrerfahrungen als Leiter diverser Musiziergruppen. Außerdem unterrichtete er einige Jahre Akkordeon an der Musikschule der Stadt Tulln.
„Das war für mich bereits ein ganz gutes Training. Ich war jeden Tag in einem anderen Wiener Bezirk und unterrichtete dort Akkordeon, Melodica und alle möglichen Sachen.“
In dieser Phase verfestigte sich sein Wunsch, sich auch in seiner beruflichen Zukunft als Musiker und Pädagoge weiter mit dem Akkordeon zu beschäftigen. Wie es das Schicksal so will, wurde 1980 die Stelle als Akkordeonlehrer am damaligen Bruckner Konservatorium (heute: Anton Bruckner Privatuniversität) in Linz ausgeschrieben. „Ich wurde zu einem Vorspiel sowie einem Lehrauftritt eingeladen und habe die Stelle als knapp 23-​Jähriger bekommen“, erzählt er bodenständig. Scherzhaft ergänzt er: „Naja, so kommen die 40 Jahre eben zustande.“
Prof. Alfred Melichar
Foto: privat
Neudenker
Der frischgebackene Akkordeonprofessor sah sich ab dem ersten Tag seines Dienstantrittes verantwortlich dafür, dass die Akkordeonszene in Linz, der oberösterreichischen Umgebung und in ganzheitlich nationaler Betrachtung neu belebt werden müsse. Immer schon war er sich der Bekleidung seiner neuen Position vollends bewusst: Endlich sollte es eine gute Ausbildung für Akkordeon in Österreich geben. Dafür sah er sich berufen.
Als besonders prestigeträchtig erwies sich die Austragung des renommierten Wettbewerbes Coupe Mondiale im Jahr 1983 auf heimischem Boden in Linz. Größen wie Lips oder Puchnowski verirrten sich mit Absicht in die Kleinstadt an der Donau. Dieses Spektakel ermöglichte vielerlei Berührungspunkte der internationalen Akkordeonszene mit der oberösterreichischen Landeshauptstadt und den Künstlern selbst. Melichar, meisterhaft am Instrument, aber auch im Kontakteknüpfen, initiierte zahlreiche Kooperationen und rief gemeinsam mit aktiven Akkordeonlehrenden wie Gertraud Campestrini den namhaften Harmonikaverein Oberösterreich ins Leben. Schlicht und einfach zusammengefasst: Das Akkordeon bekam innerhalb kürzester Zeit einen neuen, stilvolleren, künsterlisch hochwertigeren Anstrich verpasst.
Prof. Alfred Melichar
Foto: Foto Reinhard Winkler
Professor und Student
1984 wurde Melichar vom Akkordeonprofessor Lech Puchnowski (1932–2014) an die Fryderyk-​Chopin-​Universität für Musik in Warschau, Polen, eingeladen. Daraus resultierte nicht nur eine fruchtbare Zusammenarbeit auf künstlerischer Augenhöhe, sondern ebenso eine innige Freundschaft. Melichar entschloss sich, parallel zu seiner Lehrtätigkeit in Linz sein Magisterdiplom in der Warschauer Akkordeonklasse von Puchnowski zu absolvieren. Als Externist und Stipendiat des österreichischen Wissenschaftsministeriums kreuzten sich die Wege der beiden Professoren über viele Jahre hinweg. Für seinen ehemaligen Wegbegleiter, Wegbereiter, Kollegen und guten Freund findet Melichor stets nur berührend wertschätzende Worte – meist verbunden mit Dankbarkeit und Hochachtung.
Tasten oder Knöpfe?
„Ich habe in Polen festgestellt, dass 90 ÂProzent der Studierenden Knopfgriffakkordeon spielten. Erst dann kam die große Auseinandersetzung: Spiele ich Knopf oder Taste? Ich habe mich dann relativ schnell dazu entschlossen, auf das Knopfgriffakkordeon mit C-Griff-System umzusteigen.“
Das bis dahin unumstritten populärere Spielsystem im Linzer Raum war jenes mit Tasten. Um diesen Bruch der akkordeonistischen Tradition absichtlich zu vollziehen und dank technischer Raffinessen sowie zahlreicher Vorzüge des Knopfakkordeons instrumental gesehen wieder mit der Zeit gehen, waren großer Mut und Innovationsgeist vonnöten. „Das Knopfakkordeon hat einfach viele Vorteile. Der Tonumfang ist größer, die Intervallspannen sind kleiner, es gibt in der Literatur keine Einschränkungen, man hat weitreichendere Möglichkeiten und bei technisch versierteren Stücken oder Passagen sind keine Anpassungen im Notentext oder anderweitige Kompromisse notwendig“, beschreibt der Professor seine frühere Entscheidung mit fortwährender Überzeugung. Aus heutiger Sicht zählt das damalige Neudenken Melichars zur vollständig anerkannten Instrumentalgesinnung.
Mit humorvoller Wortwahl und Stimmführung, doch mit durchaus ernst gemeinter und überzeugender Botschaft fügt Melichar im Gespräch hinzu: „Anfänglich, also in meiner Sturm-​und-​Drang-​Zeit, habe ich immer probiert, alle zu einem Knopfakkordeon zu überreden. Heute sehe ich das etwas lockerer, doch bin ich nach wie vor ein Verfechter der Knopfinstrumente und könnte mir selbst nicht mehr vorstellen, Tastenakkordeon zu spielen.“
Das Akkordeon als Konzertinstrument
„Das Akkordeon war für mich immer schon mit Begeisterung verbunden“, schildert Melichar euphorisch. Doch als Konzertinstrument war es in der damaligen Zeit, rundum 1980 und später, noch nicht allumfassend integriert.
„Früher hatte das Akkordeon relativ wenig eigene Literatur, und darum war es immer mein Bestreben, dem Instrument einen Platz im Konzertleben zu sichern.“
Prof. Alfred Melichar
Foto: Reinhard Winkler
Aber wie ist dieses Umdenken musikgesellschaftlich möglich? „Weitestgehend durch Kooperationen mit engagierten Komponist*innen in der nationalen sowie internationalen Szene“, schildert Melichar. Gerne erzählt er seinen Studierenden Anekdoten seiner Anfangsjahre als Professor, in denen er unzählige Briefe (ja, per Post!) an alle möglichen Kontaktpersonen adressierte. Er bat um Stücke für oder mit Akkordeon, egal ob solistisch oder kammermusikalisch. Somit begann das instrumentale Mühlrad langsam zu mahlen.
„Als ich als junger Lehrer anfing, blickte man auf das Akkordeon noch sehr von oben herab. Aber dann folgten gewisse Ereignisse wie beim Coupe Mondiale (1983), als beim Festkonzert Fridolin Dallingers ‚Konzert für Akkordeon Streichorchester‘ uraufgeführt wurde. Schön langsam wurde das Akkordeon salonfähig, und das übersah, nein, vielmehr ‚überhörte‘, auch die Musikszene nicht.“
Neue Literatur
Prof. Alfred Melichar stellte das Akkordeon in den Folgejahren weltweit in studentischen Kompositionsklassen (wie beispielsweise an der Jerusalem Academy of Music), aber auch bei Komponisten selbst vor. Diese erkannten unweigerlich die Vorzüge, den stilistischen Facettenreichtum, aber auch das instrumentale Neudenken als obligatorisch nächsten Schritt, um das Akkordeon in höhere Sphären zu manövrieren. Über die Jahre entstanden zahlreiche Neukreationen akkordeonistischer Solo- und Kammermusikliteratur in Zusammenarbeit mit namhaften Komponisten wie Fridolin Dallinger, René Staar, Erich Urbanner, Friedrich Cerha, Tera de Marez Oyens oder Dieter Kaufmann. Letztgenannter komponierte für Alfred Melichar das Stück Grand Jeu: Für Akkordeon und Tonband, Op. 70, welches der Instrumentalist mehrere Dutzend Mal quer über den Globus aufführte. „Grand Jeu war sozusagen einer meiner Bestseller“, fügt er hinzu. Bei dem Werk handelt es sich um ein viertelstündiges Werk mit theatralischen Zügen, welches als absoluter absolutes Highlight immer für ausgefallene Stimmung im Publikum sorgt.
Aufnahmen von Dieter Kaufmanns Grand Jeu oder Tera de Marez Oyens Linzer Konzert können Sie auf Melichars Homepage nachhören: www.alfredmelichar.com.
Neue Musik und noch viel mehr
Melichar, der in seinem Künstlerdasein viele Uraufführungen konzertiert(e), trägt bis heute dazu bei, die Akkordeonszene mitzugestalten. Als instrumentale Visitenkarte gilt dabei seit jeher die zeitgenössische Musik. „Ich habe mir immer ein großes Maß an Offenheit und Neugier verordnet“, verrät Melichar. Exakt jene Wissbegier, das Interesse an modernen Klängen und Ideen, aber auch der aktive Weg hin zu Komponierenden entlockten der Musikwelt eine Großzahl an neuem Musikgut.
Dass diese Münze zweiseitig ist, wurde dem Pädagogen bald bewusst. „Man ist ja schnell mit dem Vorurteil konfrontiert, stilistisch einseitig zu sein, oder beispielsweise, dass man nur Neue Musik am Akkordeon spielen möchte. Da ich mich jedoch als sehr ehrgeizigen Menschen bezeichnen würde, wollte ich dem immer gezielt entgegenwirken“, erklärt er. Die stilistische Vielfalt, der Blick über den instrumentalen und musikalischen Tellerrand hinaus sowie die geistige Uneingeschränkt und Offenheit sind nur einige wenige Aspekte, die für Melichar aus persönlicher Sicht, aber auch im Rahmen seiner Professorentätigkeit von hohem Stellenwert sind.
Lehr- und Konzerttätigkeit
Früher, also in den Grundzügen der Akkordeonausbildung in Linz, war Alfred Melichar hauptsächlich mit der Entwicklung eines Gesamtkonzeptes und dem allgemeinen Aufbau des Studiengangs beschäftigt. Welche Eckpfeiler sind wichtig? Welche Aspekte sind für Studierende wirklich essenziell, um das Akkordeon pädagogisch, aber auch künstlerisch fachgerecht und adäquat unterrichten zu können? Dinge wie diese pendelten sich im Zeitrahmen der ersten Dekade ein und der Fokus des anfänglichen Lehrschwerpunktes fiel folglich auf den rein künstlerischen Bereich. Dieser stellt den Professor bis heute immer wieder vor neue Herausforderungen, und speziell jene Abwechslung empfindet Melichar als enorme Genugtuung.Â
Projiziert man diese Gesinnung auf ihn selbst, wird unmissverständlich klar, dass er nach wie vor für glanzvolle Bühnenmomente im Rampenlicht lebt und förmlich nach diesen Augenblicken sucht. Er arbeitet beispielsweise mit dem anerkannten Ensemble Wiener Collage (Melichar ist Obmann der Formation) und konzertiert bis heute mit Orchestern wie den Wiener Philharmonikern, dem RSO Wien, den Tonkünstlern Niederösterreich, dem RSO Hilversum, den RSO Ljubljana, der Camerata Athen und vielen mehr. Im Hinblick auf seinen Lehrauftrag versinnbildlicht seine Konzerttätigkeit nicht nur eine enorme Vorbildwirkung für alle Studierenden; seiner Meinung nach, so erklärt er im Interview, sei es als guter Pädagoge im künstlerischen Bereich wichtig, künstlerische Erfahrungen zu haben, um diese adäquat weitergeben zu können.
Einblick in die Vergangenheit und Ausblicke in die Zukunft
Melichar wollte seinen Studierenden immer möglichst alle Blickwinkel auf die Musik, das Akkordeon, aber auch das Leben in Kunst, Kultur und auf persönlicher Ebene lehren. Er vermittele „Neugier, Interesse, Aufgeschlossenheit für neue Wege in der Musik, Drang zur Selbsttätigkeit und vor allem, dass man immer mit offenen Augen sowie Ohren durch das Leben geht“, so schildert er. Während des Interviews ist auf seinen Lippen aber auch ein Hauch von Nostalgie in Wort und Mimik zu erkennen, denn der langjährige Professor wird im September 2022 die hochverdiente Pension antreten.
Für die Zukunft des Akkordeons wünscht er sich, dass es weiterhin ein vielgespieltes Instrument mit anhaltendem Drang zur Weiterentwicklung bleibt, welches aus dem Instrumentarium nicht mehr wegzudenken ist. Aus persönlicher Sicht erhofft sich Melichar in der nächsten Etappe seines Lebens „noch für viele Jahre Kraft und Energie, um weiterhin konzerttätig sein zu können“. Prof. Melichar lebte offensichtlich nach dem Motto: „Man ist immer so jung wie man sich fühlt!“, und mit exakt jenem jung gebliebenen Esprit und Elan wird er sich auch diese Träume bis ins hohe Alter verwirklichen. Wie schon einige Zeilen im Text (aber eigentlich 40 Jahre) zuvor, gilt: Visionen wurden und werden zu gelebter Realität … Dabei drückt die Akkordeonwelt die Daumen!
Jahrelang prägte Prof. Alfred Melichar nicht nur sein internationales Umfeld und die Anton Bruckner Privatuniversität in Linz, sondern auch eine Vielzahl von Musizierenden, die durch seine pädagogische und künstlerische Expertise auch nächste Generationen beeinflussen werden. Zudem hat Melichars umfassendes Engagement sehr wesentlich dazu beigetragen, dass das Akkordeon die Anerkennung hat, die wir heute kennen. Nach unfassbaren vier Dekaden ist es nun für ihn an der Zeit, den Schlüssel seines universitären Vermächtnisses ab- und weiterzugeben. Doch dieser Abschied ist schlicht als ein Adieu auf pädagogischer Ebene zu betrachten, denn es folgt direkt ein herzliches Grüßgott in vollkommener Selbständigkeit als Künstler und Bühnenmensch.
Interview mit Prof. Alfred Melichar am 10. Februar 2022
Aufmacher-Foto:
Prof. Alfred Melichar
Schönes Interview. Vielen Dank.
Wie erklären Sie sich die neue Popularität des Tastenakkordeons in der internationalen Musikwelt, in der die Vorzüge des Knopfakkordeons keine Rolle mehr zu spielen scheinen?