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Auf Clara Graziano wurde ich vor einigen Jahren durch ihr Musiktheaterensemble Circo Diatónico [„Diatonischer Zirkus“, Anm. d. Red.] aufmerksam. Das Ensemble wurde 1996 gegründet und findet seine Inspiration in der Welt des Zirkus, die es als eine metaphorische Darstellung des Lebens und unserer alltäglichen Erfahrungen auffasst und mit Einflüssen aus dem Jazz, der Balkanmusik und der populären Musik von Dorfkapellen umsetzt. Als „Fellini-esk“ beschreiben viele die besondere Atmosphäre, die das Ensemble dabei schafft.Â
Clara Graziano stammt aus der Region Kampanien im Südwesten Italiens und ist seit 1988 als Akkordeonistin aktiv, neben Circo Diatónico unter anderem in der Frauenband La Banda Della Ricetta [„Die Rezept-Band“, Anm. d. Red.]. Letzten Sommer erfuhr ich über Erasmo Treglia, der beim Musiklabel Finisterre für die Veröffentlichungen des Ensembles Circo Diatónico zuständig ist, von Claras neuem Album, das ihren eigenen Namen trägt und ihre eigenen Kompositionen enthält: [„Im Rhythmus des Mondes“, Anm. d. Red.]. Das Album stellt ein sogenanntes „Mondtagebuch“ ihrer künstlerischen Reise dar, das vom Facettenreichtum ihrer kreativen Arbeit erzählt. Im Gespräch mit Clara erfahren wir mehr über diesen besonderen Titel, das Konzept hinter dem Album und über Clara Graziano als Künstlerin an sich. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen.
Text & Interview: Araceli Tzigane; Übersetzung aus dem Englischen: Daniela Höfele
Clara, du kannst bereits auf eine lange Karriere zurückblicken, während der du als Akkordeonistin in Ensembles wie dem Orchestra Popolare Italiana, Circo Diatonico and La Banda della Ricetta aktiv warst bzw. bist. Nun hast du dein erstes Solo-Album mit deinen eigenen Kompositionen veröffentlicht. Warum genau jetzt?
Die Zeit war jetzt einfach reif dafür. Es fühlte sich richtig an, eine musikalische Anthologie vorzulegen, die meinen Weg als Musikerin zusammenfasst: Auf meinem Album greife ich – immer meinem Herzen und meinen Gefühlen folgend – alle all die Klänge, Rhythmen und musikalischen Genres auf, die mich auf dieser langen Reise begleitet haben, und interpretiere sie auf meine Weise.
Warum ist es für Musikerinnen und Musiker in einer Zeit, in der alles immer digitalisierter wird, nach wie vor sinnvoll, ein Album auf CD herauszubringen?
Die digitale Welt erlaubt natürlich die Freude eigenständig produzierter Musik, was vielen Künstlerinnen und Künstlern eine Präsenz im Internet ermöglicht und den Hörerinnen und Hörern eine immense Auswahl für jeden Geschmack bietet. Aber ich bin ein Kind aus der Zeit, in der wir Vinylplatten hörten – so lange, bis jede einzelne Rille gerissen war und wir alle Stücke komplett auswendig konnten… Und lass uns an dieser Stelle unbedingt auch über die Cover und die Plattenhüllen sprechen, die wir „verschlangen“, indem wir sie in die Hand nahmen, um die Songtexte zu lesen, die Namen der Musikerinnen und Musiker zu erfahren und anderes Wissenswertes, das uns dann in unseren Träumen beschäftigte…. Für uns war es eine große Freude, viele LPs unterschiedlichster Genres zu besitzen und sie gemeinsam mit Freunden zu hören oder sie uns gegenseitig auszuleihen.
Um also auf den Grund meiner Entscheidung für eine solche Art der Veröffentlichung zurückzukommen: Wie Susanne Tamaro in ihrem Roman „Geh, wohin dein Herz dich trägt“ schreibt, folgte ich dem, was mein Herz mir riet und entschied mich, ein haptisches Album herauszubringen, das ich in die Hand nehmen kann, dessen Booklet ich in gedruckter Version lesen kann und das mir einfach immer zur Verfügung steht.
Das Album trägt den Titel Al ritmo della luna, „Im Rhythmus des Mondes“. Worin siehst du die Beziehung zwischen dem Mond und deinem Akkordeon?
Ich würde weniger von der Beziehung zwischen dem Mond und meinem Instrument sprechen, sondern vielmehr von der Beziehung zwischen dem Mond und mir. Der Mond hat schon immer Mythen, Gedichte und Volksglauben inspiriert, er war immer mit dem weiblichen Geschlecht und den Lebensphasen verbunden und ist in der Lage, unsere Stimmungen und Gefühle zu beeinflussen. Das fasziniert mich persönlich so sehr, dass ich den Mond häufig als Inspirationsquelle für meine Musik nutze. Er ist für mich wie ein Freund, der Aufbewahrungsort und Zeuge meiner Geschichten. Unabhängig seiner Phasen – Neumond, Halbmond, zu- oder abnehmender Mond oder auch Vollmond – diente er schon seit Urzeiten als Orientierungspunkt beim Säen und Ernten und damit letztlich für die ganze Erde, die bäuerliche Welt und die Volkskultur. Und ich ertappe mich oft dabei, dass auch ich seinem Rhythmus folge.
Kannst du uns beschreiben, wie du komponierst? Hast du dabei dein Akkordeon in der Hand?
Nomalerweise folgt meine Kompositionsphase ebenfalls dem gerade beschriebenen Modus, aber es kommt auch vor, dass mich irgendein Ereignis oder ein Gefühl spontan auf eine Melodie bringt, die ich dann direkt auf auf dem Instrument umsetze.
In deiner Musik spüre ich Einflüsse von Klezmer, Filmmusik und einer Art fantasievollem französischen Folk. Würdest du dem zustimmen und gibt es weitere Einflüsse, die du ergänzen würdest?
Du hast recht, von allem Genannten ist etwas dabei. Ich würde noch eine Prise Jazz und die Klänge von Dorfkapellen hinzufügen, aber mein Ausgangspunkt ist und bleibt natürlich immer die Musik der Volkstradition, vor allem derjenigen aus dem mittleren Süden Italiens – der Region, aus der ich komme und in der auch mein Instrument sehr verbreitet ist.
Kannst du mir etwas über die Akkordeons erzählen, die du spielst? Haben deine Instrumente besondere Eigenschaften?
Mein Instrumente sind diatonische Akkordeons, die in Italien unter dem Begriff „organetti“ bekannt sind. Begonnen habe ich mit einem 8-Bass in G, der häufigsten Tonart in der traditionellen Musik. Dann habe ich zu einem 12-Bass und schließlich zu einem 18-Bass gewechselt, mit Anpassungen hinsichtlich der Vorzeichen in der dritten Reihe, was dem Instrument den Charakter eines „halbchromatischen“ Akkordeons verleiht. Damit kann man relativ leicht verschiedene chromatische Tonleitern spielen, was praktisch ist, wenn man mit anderen Instrumenten unterschiedlicher Tonarten spielen möchte, ohne deshalb mehrere Akkordeons mitschleppen zu müssen.Â
Eines meiner neuesten Schmuckstücke ist ein Akkordeon in mib/sib, das sehr effektvoll ist und eine angenehme Griffweise hat, um mit Blasinstrumenten wie Saxophon, Trompete, Klarinette und Basstuba zusammenzuspielen, so wie ich es bei meinem Repertoire gerne tue.
Alle meine Instrumente sind verstärkt und wurden von der Firma Castagnari aus Recanati [in der Region Marken, Anm. d. Red.] gebaut. Mit ihren diatonischen Akkordeons bin ich immer so zufrieden, dass ich noch nie das Bedürfnis hatte, Instrumente anderer Hersteller zu kaufen, auch wenn es sicher welche gibt, die genauso professionell und kompetent sind.
Wie ist die aktuelle Situation der Akkordeonbauer in Italien? Einige der bekanntesten Akkordeonmarken sind italienisch, deshalb gehe ich davon aus, dass es für dich einfach ist, deine Instrumente bei Bedarf reparieren zu lassen. Ist das richtig?
Die meisten Hersteller hierzulande sind in der Region Marken ansässig. Ich hingegen lebe in Rom, wo es tatsächlich nicht so einfach ist, Reparaturen oder Wartungen durchführen zu lassen. Kleinere Reparaturen sind möglich, da hier seit einigen Jahren mehrere Geigenbauer tätig sind. Wenn nötig, gehe ich aber direkt zu Castagnari in Recanati. Und es ist immer wieder spannend, deren Werkstatt mit den ganzen Musikinstrumenten zu besuchen.
Warum spielst du Akkordeon und was ist deine persönliche Geschichte mit diesem Instrument?
Ich bin in Aversa in der Nähe von Neapel geboren und aufgewachsen. Aversa ist auch der Geburtsort einiger berühmter klassischer Musiker aus dem 18. Jahrhundert, wie Domenico Cimarosa, Niccolò Jommelli und Gaetano Andreozzi „Jommellino“, und auch einiger guter Jazzmusiker. Meine Heimatstadt war immer musikalisch sehr aktiv, ich bin selbst mit Musik aller Genres aufgewachsen und war immer am Puls der Zeit – vom frühen Rock bis zu den neuesten Trends habe ich alles gern gehört. Ich war fast immer die Jüngste in einer Gruppe befreundeter Musiker, die Folk, Jazz und Rock spielten, und war bei ihren und anderen Konzerten bedeutender Musiker in den 1970er und 80er Jahren dabei. Und obwohl ich zu dieser Zeit Klavier spielte und singen und tanzen liebte, bekam ich erst nach meinem Umzug nach Rom die Gelegenheit, mein eigenes Abenteuer als Musikerin zu beginnen. Wenige Monate nach dem Umzug wollte ich meinen Klavierunterricht wieder aufnehmen und ging an die Scuola Popolare Di Musica Donna Olimpia. Hier hatte ich die entscheidende Begegnung meines musikalischen Abenteuers, es war Liebe auf den ersten Blick: Gerade als ich mich nach dem Klavierkurs erkundigte, hörte ich plötzlich im Raum nebenan den Klang eines Akkordeons. Ich bat sofort darum, hineingehen und zusehen zu dürfen. Dort traf ich zum ersten Mal auf Ambrogio Sparagna, der gerade Unterricht gab. Und in dem Moment, als ich die ersten Töne einer Melodie hörte, wurde ich förmlich von einem großen und starken Gefühl überwältigt, sodass ich wusste: DAS IST ES! Das ist genau das, wonach ich gesucht habe! Und so kaufte ich mir innerhalb einer Woche mein erstes Castagnari-8-Bass-Akkordeon in der Tonart G/C und begann, das Instrument zu lernen, indem ich Unterricht bei Ambrogio Sparagna nahm.
Von diesem Moment an habe ich nie mehr damit aufgehört. Nach einiger Zeit des Unterrichts und des intensiven Studiums des Instruments nahm mich Maestro Sparagna in seine Bosio Big Band auf, ein wunderbares Orchester, das aus mehr als dreißig Instrumenten besteht, darunter Akkordeons und Schlaginstrumente. Damit begann eines der schönsten Abenteuer meines Lebens. Ich lernte es, mich auf einer Bühne zu präsentieren, mit anderen zusammenzuspielen, das musikalische und dramaturgische Timing unserer Auftritte bei Tourneen in Italien und im Ausland zu beachten. Kurz gesagt: Für mich ging ein Traum in Erfüllung.
Irgendwann kam dann der Moment, in dem ich, eine einfache Orchestermusikerin, meine eigene Kompositionsreise beginnen wollte. So entstand mein erstes Repertoire mit Stücken, die meine immer größer werdende Neugier auf neue musikalische Stile und Formen widerspiegelten. Und so entstand 1997 auch mein erstes Projekt, Circo Diatónico, mit Musik, die von der Atmosphäre der Zirkuswelt inspiriert war. Für mich war dieser Zirkus eine metaphorische Darstellung unseres Lebens, wo Musik, die ich mit meinem Akkordeon komponiert hatte – also mit einem Instrument, das zu meiner Volkstradition gehört – auf andere musikalische Sprachen traf und sich mit ihnen vermischte: mit Jazz-Improvisationen, balkanischen Tempi und Melodien, mit musikalischen Darbietungen, die an kleine dörfliche Blaskapellen erinnerten. Es war eine aufregende Erfahrung, die ich als eine Explosion von Noten und der Jonglage erlebte und die mich an einen Zirkus mit seinem kleinen Orchester erinnerte, den ich aus meiner Kindheit kannte.
Später gründete ich La Banda Della Ricetta, ein reines Frauenprojekt, das sich ganz dem guten Essen und Trinken widmet. Hierfür schrieb ich viele neue Songs, aber holte auch viele bekannte und weniger bekannte Lieder unterschiedlicher Künstler aus der Schublade, die vom Essen handelten. Das war für mich schon fast ein Pflichtprogramm, denn in meiner fast neapolitanischen Heimatgegend ist gutes Essen ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Bei uns zu Hause wurde beispielsweise schon während des Mittagessens ausdiskutiert, was es später zum Abendessen geben sollte.
Worin siehst du die Vorteile des Akkordeons als Instrument?
Das Instrument Akkordeon ist musikalisch vollkommen. Man braucht nur ein paar Töne und zwei Akkorde, und schon schafft es eine Atmosphäre der Freude und des Feierns. Gleichzeitig kann man mit den gleichen Tönen aber auch ein intensiveres Gefühl, eine Sehnsucht oder Leidenschaft vermitteln. Außerdem ist das Instrument sehr praktisch und einfach zu handhaben, sodass man es überall in Italien finden kann – wobei es sich in jeder Gegend an deren ganz eigenen Stil anpasst. Und in jedem Fall reicht schon ein einziges Akkordeon aus, um zum Tanz aufzuspielen. Es gibt nichts Vorteilhafteres als das.
Welche Akkordeonisten haben dich beeinflusst?
Sicherlich Ambrogio Sparagna, der mit seinen schönen Kompositionen und seiner treibenden, lebendigen Energie mein Lehrer war. Und auch Marc Perrone, Mario Salvi und einige traditionelle Musiker aus Mittel- und Süditalien. Sehr gerne habe ich auch immer die Musik von Riccardo Tesi, Totore Chessa, Mairtin O‘ Connor, Sharon Shannon, Antonio Rivas, Kepa Junkera, Richard Galliano, Astor Piazzolla und vielen anderen gehört.
Kannst du einen weiteren Akkordeonisten empfehlen, den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte?
Einer meiner Favoriten ist Antonello Salis, der sich besonders durch seine Originalität auszeichnet. Aber es gibt auch zahlreiche sehr junge Musikerinnen und Musiker, die für die Zukunft des Instruments sehr vielversprechend sind.
Welche Träume oder Visionen hast du im Hinblick auf das Akkordeon und deine Musik? Wenn alles möglich wäre – von einem 100-köpfigen Akkordeonorchester bis hin zur Wiederauferstehung eines legendären Akkordeonisten für ein Duett: Lass deiner Phantasie gerne freien Lauf!
Ich hätte sehr gerne die Möglichkeit, einmal ein Duett mit meinem Onkel zu spielen, der Pianist war und leider bereits vor meiner Geburt verstorben ist. Ich habe ihn also nie kennengelernt, aber bin schon immer der Ãœberzeugung, dass er mir die Liebe zur Musik vererbt hat.Â
Gibt es abschließend noch etwas, das du unseren Leserinnen und Lesern mitteilen möchtest?
Ich würde mir wünschen, dass weiblichen Akkordeonistinnen, Organistinnen und Musikerinnen generell die gleiche Aufmerksamkeit und der gleiche Raum zuteil wird, wie er aus kulturellen Gründen immer noch oft vor allem männlichen Musikern zugestanden wird.
Herzlichen Dank für das Interview!
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